Der Hund hörte zu kauen auf, schluckte und wandte Travis seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu.
»In letzter Zeit waren meine Depressionen schwärzer als Mitternacht auf dem Mond. Weißt du, was Depressionen sind, Köter?«
Der Retriever stand auf, als wären die Hundekuchen vergessen, und kam zu ihm. Er schaute ihm mit jener entnervenden Tiefe und Direktheit in die Augen, wie er das schon vorher getan hatte.
Travis wich dem Blick nicht aus und sagte: »Wenn ich auch nicht an Selbstmord dachte. Zum einen bin ich als Katholik erzogen, und obwohl ich schon eine Ewigkeit nicht mehr in der Kirche gewesen bin, habe ich mir doch meinen Glauben bewahrt, zum Teil wenigstens. Und für einen Katholiken ist Selbstmord eine Todsünde. Mord. Außerdem bin ich zu stur und zäh, um aufzugeben, ganz gleich, wie schwarz die Dinge sind.«
Der Retriever blinzelte, löste aber den Blick nicht.
»Ich war in diesem Wald und suchte nach dem Glück von damals. Und dann bin ich auf dich gestoßen.«
»Wuff«, sagte der Hund, als wollte er sagen: Gut.
Travis stützte den Kopf in beide Hände, vergrub sein Gesicht darin und sagte: »Depression. Das Gefühl, die Existenz sei sinnlos geworden. Wie sollte ein Hund darüber was wissen, hm? Ein Hund hat keine Sorgen, oder? Für einen Hund ist jeder Tag eine Freude. Verstehst du also wirklich, wovon ich rede, Junge? Weiß Gott, ich glaube, du tust es vielleicht. Aber schreibe ich dir zu viel Intelligenz zu, zu viel Weisheit, selbst für einen Zauberhund? Hm? Ja, du kannst ein paar erstaunliche Tricks, aber das ist nicht dasselbe wie mich zu verstehen.« Der Retriever entfernte sich von ihm und ging zurück zu dem Paket mit den Hundekuchen. Er nahm den Beutel mit den Zähnen und schüttelte zwanzig oder dreißig Hundekuchen aus dem Sack auf den Bodenbelag.
»Da haben wir's wieder«, sagte Travis. »Einmal kommst du einem fast wie ein Mensch vor - im nächsten Augenblick bist du nur noch ein Hund mit den Interessen eines Hundes.«
Aber der Retriever war gar nicht auf einen Imbiß aus. Er fing an, die Hundekuchen mit der schwarzen Spitze seiner Schnauze vor sich herzuschieben, bugsierte sie einen nach
dem anderen in die Mitte des Küchenbodens und ordnete sie säuberlich, Schmalseite an Schmalseite.
»Was, zum Teufel, soll das jetzt wieder?«
Der Hund hatte fünf Biskuits in einer Reihe angeordnet, die nach rechts einen Bogen beschrieb. Jetzt schob er den sechsten Hundekuchen dazu und betonte damit die Kurve noch.
Travis trank hastig sein Bier aus, ohne dabei den Hund aus den Augen zu lassen, und öffnete die zweite Dose. Er hatte das Gefühl, er werde das Bier brauchen.
Der Hund studierte die Reihe der Hundekuchen einen Augenblick lang, als wäre er sich nicht ganz sicher, was er da angefangen hatte. Er lief ein paarmal hin und her, sichtlich im unklaren, schob aber zu guter Letzt zwei weitere Hundekuchen an die Reihe. Er schaute Travis an, dann wieder das Gebilde, das er auf dem Fußboden erzeugte, und schob dann mit der Nase einen neunten Hundekuchen an seinen Platz.
Travis nahm einen Schluck von seinem Bier und wartete angespannt, was als nächstes kommen werde.
Der Hund schüttelte den Kopf, gab einen enttäuschten, schnaubenden Laut von sich und ging dann zum anderen Ende des Zimmers, stand mit gesenktem Kopf da und schaute in die Ecke. Travis fragte sich, was das zu bedeuten habe, und kam dann irgendwie auf den Gedanken, er sei in die Ecke gegangen, um seine Gedanken zu ordnen. Nach einer Weile kam er zurück und schob den zehnten und elften Hundekuchen an seinen Platz, damit die Anordnung erweiternd.
Wieder überkam Travis die Vorahnung, daß sich hier etwas von großer Bedeutung anbahnte. Er spürte eine Gänsehaut auf seinen Armen.
Diesmal sollte er nicht enttäuscht werden. Der Golden Retriever benutzte neunzehn Hundekuchen dazu, um auf dem Küchenboden ein etwas unregelmäßiges, aber durchaus erkennbares Fragezeichen zu legen, hob dann die ausdrucksvollen Augen und sah Travis an.
Ein Fragezeichen.
Und seine Bedeutung: Warum? Warum bist du so deprimiert? Warum hast du das Gefühl, das Leben sei sinnlos und leer?
Offenbar verstand der Hund, was er ihm gesagt hatte. Also schön. Okay. Vielleicht verstand er Sprache nicht exakt, konn-te nicht jedem Wort folgen, aber irgendwie erfaßte er die Bedeutung dessen, was man sagte, oder zumindest genug davon, daß sein Interesse und seine Neugierde geweckt wurden.
Und, o Gott! Wenn er nun auch den Zweck eines Fragezeichens verstand, dann war er zu abstraktem Denken fähig! Allein der Gedanke, einfache Symbole - Buchstaben, Zahlen, Fragezeichen, Ausrufungszeichen -, als eine Art Kurzschrift zur Übermittlung komplizierter Ideen zu verwenden ... nun, das erforderte abstraktes Denken. Und abstraktes Denken war eine Fähigkeit, die auf der Erde nur einer Gattung vorbehalten war: der Menschheit. Dieser Golden Retriever, allen Anzeichen nach kein Mensch, hatte sich aber irgendwie in den Besitz intellektueller Fähigkeiten gesetzt, die kein anderes Lebewesen für sich beanspruchen konnte.
Travis war wie benommen. Aber an dem Fragezeichen war nichts Zufälliges. Plump vielleicht, aber keineswegs zufällig. Irgendwo mußte der Hund das Symbol gesehen und seine Bedeutung erlernt haben. Statistiker sagten, eine unendliche Zahl von Affen, ausgerüstet mit einer unendlichen Zahl von Schreibmaschinen, würden, einfach dem Zufallsprinzip gehorchend, am Ende imstande sein, jede einzelne Zeile der großen englischen Prosa neu zu schaffen. Daß dieser Hund, überlegte er, in genau zwei Minuten aus Hundekuchen ein Fragezeichen formte, und dies einzig und allein zufällig, war etwa zehnmal so unwahrscheinlich wie diese verdammten Affen, die Shakespeares Stücke neu schrieben.
Der Hund beobachtete ihn voll Erwartung.
Als Travis aufstand, stellte er fest, daß er etwas unsicher auf den Beinen war. Er ging zu den sorgfältig aufgelegten Hundekuchen, warf sie durcheinander und kehrte zu seinem Stuhl zurück.
Der Retriever besah sich die Unordnung, schaute Travis fragend an, beschnüffelte die Hundekuchen und schien irgendwie verblüfft.
Travis wartete.
Es war unnatürlich still im Haus, so als wäre der Fluß der Zeit für jedes lebende Geschöpf, jede Maschine und jeden Gegenstand auf dieser Erde angehalten worden - ausgenommen für ihn, den Retriever und das, was sich in der Küche befand.
Schließlich begann der Hund wie vorhin die Biskuits mit der Nase umherzuschieben. Nach ein oder zwei Minuten waren sie wiederum in der Form eines Fragezeichens angeordnet. Travis nahm einen langen Schluck Bier. Sein Herz schlug wie wild. Seine Handflächen waren feucht. Staunen und Verblüffung, wilde Freude und Angst vor dem Unbekannten erfüllten ihn, gleichzeitig hatten Bestürzung und ehrfürchtige Scheu ihn ergriffen. Er wollte lachen, hatte er doch nie auch nur annähernd so Spaßiges gesehen wie diesen Hund. Und er wollte weinen, denn noch vor Stunden hatte er geglaubt, das Leben sei trostlos, finster und ohne Sinn. Doch wie schmerzvoll es auch manchmal sein mochte: Das Leben war doch, wie er jetzt begriff, etwas ungemein Wertvolles. Er hatte tatsäch-ich das Gefühl, Gott habe ihm den Retriever gesandt, um ihn nieder neugierig zu machen, ihn daran zu erinnern, daß die Zeit voller Überraschungen war und Verzweiflung keinen Sinn ergab, solange man den Zweck - und die seltsamen Möglichkeiten - der Existenz nicht begriff. Travis wollte lachen, aber sein Lachen bewegte sich am Rand eines Schluch-zens. Als er jedoch dem Schluchzen nachgab, wurde ein Lachen daraus. Er wollte aufstehen, wußte gleich, daß er noch zittriger war als vorhin, zu zittrig; also tat er das einzige, wozu er imstande war: Er blieb in seinem Stuhl sitzen und nahm noch einen langen Schluck Bier.
Der Hund legte den Kopf schief, zuerst nach der einen, dann nach der anderen Seite, beobachtete ihn scharf, als dächte er, Travis habe den Verstand verloren. Das hatte er ja auch. Vor Monaten. Aber jetzt fühlte er sich viel besser.