Er stellte das Bier nieder und wischte sich mit den Handrük-ken die Tränen aus den Augen. Dann sagte er: »Komm her, Pelzgesicht!«
Der Retriever zögerte und kam dann zu ihm.
Travis zerzauste ihm das Fell, streichelte ihn, kratzte ihn hinter den Ohren. »Du erstaunst mich und machst mir Angst. Ich kann mir nicht zusammenreimen, woher du kommst oder wie du zu dem geworden bist, was du jetzt bist. Aber du hättest keinen Platz finden können, wo man dich mehr braucht. Ein Fragezeichen, hm? Herrgott! Also schön. Du willst wissen, warum ich fand, das Leben habe mir weder Sinn noch Freuden zu bieten? Ich will's dir sagen. Ja, bei Gott, das will ich. Ich werde hier sitzen, noch ein Bier trinken und es einem Hund erzählen. Vorher aber... werd' ich dir einen Namen geben.« Der Hund blies die Luft durch die Nüstern, als wollte er sagen: Nun, wird ja auch Zeit.
Travis umfaßte den Kopf des Hundes und sah ihm dabei tief in die Augen. Dann sagte er: »Einstein. Von nun an. Pelzgesicht, heißt du Einstein.«
4
Um zehn Minuten nach Neun rief Streck wieder an. Nora schnappte sich den Hörer beim ersten Klingeln, war fest entschlossen, ihm zu sagen, er solle sie in Ruhe lassen. Aber aus irgendeinem Grund verkrampfte sich in ihr wieder alles, und sie brachte kein Wort heraus.
Mit abstoßender Vertraulichkeit sagte er: »Vermißt du mich, Hübsches? Hm? Wünschst du dir, daß ich komme und dir ein Mann bin?«
Sie legte auf.
Was stimmt bloß nicht mit mir? fragte sie sich. Warum schaffe ich es nicht, ihm zu sagen, er soll sich trollen und aufhören, mich zu belästigen?
Vielleicht kam ihre Sprachlosigkeit vom verborgeneren Wunsch, zu hören, wie ein Mann - irgendein Mann, selbst ein so abstoßender wie Streck - sie hübsch nannte. Obwohl er nicht von der Art war, die der Zärtlichkeit oder Zuneigung fähig war, konnte sie ihm zuhören und sich dabei ausmalen, wie es wäre, wenn ein guter Mann ihr süße Dinge sagte.
»Nun, du bist nicht hübsch«, sagte sie zu sich, »und du wirst es auch nie sein, also hör auf zu träumen. Das nächste Mal, wenn er anruft, sagst du ihm die Meinung.«
Sie stieg aus dem Bett und ging durch den Flur zum Badezimmer, in dem ein Spiegel hing. Violet Devons Beispiel folgend, hatte Nora außer in den Badezimmern nirgends Spiegel. Sie mochte sich nicht ansehen, weil das, was sie sah, so betrüblich war.
Aber heute nacht wollte sie einen Blick auf sich werfen, weil Strecks Schmeicheleien, wenn auch mit kalter Berechnung gegeben, ihre Neugierde geweckt hatten. Nicht daß sie hoffte, irgendein schönes Merkmal zu entdecken, die sie nie zuvor an sich gesehen hatte. Nein. Über Nacht vom häßlichen Entlein zum schönen Schwan ... ein leerer Traum. Vielmehr wollte sie sich bestätigen, daß sie unattraktiv war. Strecks nicht erwünschtes Interesse warf Nora aus der Bahn, weil sie sich in ihrer Reizlosigkeit und Einsamkeit behaglich fühlte. Jetzt wollte sie sich versichern, daß er sich über sie lustig machte und seine Drohungen nicht wahrmachen würde. Ihre friedvolle Einsamkeit würde weiterdauern. Wenigstens redete sie sich das ein, als sie das Badezimmer betrat und das Licht anknipste.
Der enge Raum war vom Boden bis zur Decke blaßblau, am Fliesenrand weiß gekachelt. Es gab eine riesige Badewanne mit Klauenfüßen. Weißes Porzellan und Messingarmaturen. Den großen Spiegel, der deutliche Altersspuren aufwies.
Sie betrachtete ihr Haar, von dem Streck sagte, es sei schön, dunkel und glänzend. Aber es war fahlfarben und ohne natürlichen Glanz. Nach ihrer Meinung nicht glänzend, sondern fettig, obwohl sie es am Morgen gewaschen hatte.
Sie prüfte rasch Stirn, Backenknochen, Nase, Kinnpartie, Lippen. Zog zaghaft mit einer Hand die Linie ihrer Züge nach, entdeckte aber nichts, was einem Mann auffallen mochte.
Zuletzt starrte sie widerstrebend in ihre Augen, die Streck schön und tiefgründig nannte. Sie waren grau und glanzlos, und sie ertrug es nicht, ihren eigenen Blick mehr als ein paar Sekunden lang zu erwidern. Ihre Augen bestätigten ihr die geringe Meinung, die sie von ihrem Aussehen hatte. Andererseits ... nun, sie sah in ihren Augen einen schwelenden Zorn, der sie beunruhigte, der nicht zu ihr paßte; einen Zorn über das, was sie aus sich hatte werden lassen. Was natürlich überhaupt keinen Sinn ergab. Denn sie war das, was die Natur aus ihr gemacht hatte - eine Maus.
Als sie sich von dem fleckigen Spiegel abwandte, spürte sie mit einemmal schmerzhaft die Enttäuschung darüber, daß ihre Inspektion zu keiner einzigen Überraschung oder Neubewertung geführt hatte. Im gleichen Augenblick war sie schockiert, ja entsetzt über diese Enttäuschung. Sie stand in der Badezimmertür, schüttelte den Kopf und wunderte sich über ihre wirren Gedanken.
Wollte sie Streck gefallen? Natürlich nicht. Er war sonderlich, krank, gefährlich. Auf ihn attraktiv zu wirken, war das Allerletzte, was sie wollte. Vielleicht würde sie nichts dagegen haben, wenn ein anderer Mann sie wohlwollend ansah. Nicht aber bei Streck. Eigentlich sollte sie auf die Knie fallen und Gott danken, daß er sie so geschaffen hatte, wie sie war, weil Streck, wäre sie auch nur ein wenig attraktiv, seine Drohungen wahrmachen würde. Er würde herkommen und sie vergewaltigen. Vielleicht sogar ermorden. Wer wußte schon, was in Männern wie ihm vorging? Wer wußte schon, wie weit er gehen würde? Nein, sie war keine nervöse alte Jungfer, wenn sie sich über Mord Gedanken machte, nicht in Zeiten wie diesen: Schließlich waren die Zeitungen voll davon.
Ihr fiel ein, daß sie ohne Waffe war, und sie eilte ins Schlafzimmer zurück, wo sie das Fleischermesser liegengelassen hatte.
5
Die meisten Leute glauben, mit Psychoanalyse könne man Unglück kurieren. Sie sind sicher, sie würden ihre Probleme bewältigen und zu innerem Frieden gelangen, sofern sie ihren Seelenzustand durchschauten und die Gründe für ihre negativen Stimmungen und ihr destruktives Verhalten verstünden. Aber Travis hatte die Erfahrung gemacht, daß dies nicht der Fall war. Er hatte sich jahrelang rücksichtsloser Selbstanalyse gestellt und schon vor langer Zeit herausgefunden, weshalb er zum Einzelgänger geworden war, dem es nicht mehr gelang, Freunde zu gewinnen. Und trotz dieser Erkenntnis war er nicht imstande gewesen, sich zu ändern.
Jetzt saß er, während Mittemacht nahte, in der Küche, trank noch ein Bier und erzählte Einstein von seiner selbstauferleg-ten seelischen Isolation. Einstein saß bewegungslos vor ihm, gähnte kein einziges Mal, als gelte sein ganzes Interesse Travis' Bericht.
»Ich war schon als Kind ein Einzelgänger, von allem Anfang an, obwohl ich nicht ganz ohne Freunde war. Es war nur so, daß ich immer meine eigene Gesellschaft vorzog. Ich vermute, das liegt in meiner Natur. Ich meine, als ich ein Kind war, war ich noch nicht zum Schluß gekommen, es sei gefährlich, mit mir befreundet zu sein.«
Travis' Mutter war bei seiner Geburt gestorben, und das war ihm schon in sehr jungen Jahren bekannt gewesen. Mit der Zeit sollte ihm ihr Tod wie ein Omen dessen, was noch kommcn sollte, vorkommen und schreckliche Bedeutung annehmen; aber das war später. Als Kind lastete die Bürde der Schuld noch nicht auf ihm.
Nicht bevor er zehn wurde. Das war das Jahr, in dem sein Bruder Harry starb. Harry war zwölf, um zwei Jahre älter als Travis. Eines Montagmorgens im Juni überredete Harry Travis dazu, die drei Blocks bis zum Strand zu wandern, obwohl ihr Vater ihnen ausdrücklich verboten hatte, ohne ihn schwimmen zu gehen. Es war eine einsame Badebucht ohne Badeaufseher, und sie waren weit und breit die einzigen Schwimmer.
»Harry geriet in eine Strömung«, berichtete Travis. »Wir waren beide im Wasser, keine drei Meter voneinander entfernt, und die verdammte Strömung packte ihn und riß ihn mit sich, sog, mich aber hat sie nicht erwischt. Ich bin sogar hinter ihm hergeschwommen, habe versucht, ihn zu retten, hätte also eigentlich in dieselbe Strömung hineinschwimmen müssen. Aber ich nehme an, sie änderte, gleich nachdem sie Harry erfaßt hatte, ihre Richtung, weil ich lebend aus dem Wasser kam.« Ein paar Augenblicke lang starrte er die Tischplatte an, sah vor sich nicht etwa den roten Kunststoffbelag, sondern die trügerische blaugrüne See mit ihren Wellen. »Ich habe meinen großen Bruder mehr als sonst jemanden auf der Welt geliebt.«