Er trank einen Schluck Bier. Streichelte den Kopf des Hundes.
Nach einer Weile sagte er: »Danach versuchte ich mein Leben wie gewohnt weiterzuführen. Ich bin immer stolz darauf gewesen, einer zu sein, der weitermacht, sich mit allem abfinden kann, einer, der immer die Nase oben behält, und all den Quatsch. Das Maklerbüro hab' ich noch ein Jahr in Gang gehalten. Aber nichts davon war mehr wichtig. Vor zwei Jahren hab' ich es verkauft. Löste auch meine Wertpapiere ein. Machte alles zu Geld und legte es auf die Bank. Mietete dieses Haus. Hab' die letzten zwei Jahre mit... nun, mit Brüten verbracht. Und bin dabei zum Eichhörnchen geworden. Kein Wunder, wie? Ein verdammtes Eichhörnchen. Kam im Kreis zurück, verstehst du, genau an den Punkt meiner kindlichen Überzeugungen. Für mich stand fest, daß ich für jeden eine Gefahr war, der mir nahekam. Aber du hast mich verändert, Einstein. An einem einzigen Tag hast du mich umgedreht. Ich schwöre dir, es ist als hätte man dich geschickt, um mir zu zeigen, daß das Leben geheimnisvoll, fremdartig und voller Wunder ist - und daß sich nur ein Narr freiwillig daraus zurückzieht und die Dinge an sich vorbeiziehen läßt.«
Wieder schaute der Hund zu ihm empor.
Er hob die Bierdose, aber sie war leer.
Einstein ging zum Kühlschrank und holte eine neue.
Travis nahm dem Hund die Dose ab und sagte: »So, jetzt hast du die ganze traurige Geschichte gehört. Was meinst du letzt? Glaubst du, daß es klug für dich ist, in meiner Nähe zu sein? Glaubst du, es ist ungefährlich?«
Einstein wuffte.
»War das ein Ja?«
Einstein rollte sich auf den Rücken, streckte alle viere in die Luft, bot seinen Bauch dar, wie er das getan hatte, als er Travis gestattete, ihm ein Halsband anzulegen.
Travis stellte sein Bier beiseite, glitt vom Stuhl, ließ sich auf den Boden nieder und streichelte den Hund am Bauch. »Also gut«, sagte er. »Also gut. Aber stirb mir nicht, verdammt. Komm ja nicht auf die Idee, mir zu sterben.«
6
Um elf uhr klingelte Nora Devons Telefon.
Es war Streck. »Bist du jetzt im Bett, meine Hübsche?«
Sie gab keine Antwort.
»Wünschst du dir, ich wäre bei dir?«
Seit dem letzten Anruf hatte sie darüber nachgedacht, wie sie mit ihm zurechtkäme, und dabei waren ihr ein paar Drohungen eingefallen, die, wie sie hoffte, vielleicht wirken würden. »Wenn Sie mich nicht in Frieden lassen«, sagte sie, »geh' ich zur Polizei.«
»Nora, schläfst du nackt?«
Sie saß im Bett. Jetzt richtete sie sich weiter auf, starr, verkrampft. »Ich gehe zur Polizei und werde sagen, daß Sie versucht haben... sich mir aufzudrängen. Das werde ich. Ich schwöre, ich werde es tun.«
»Ich möchte dich nackt sehen«, sagte er, ihre Drohung nicht beachtend.
»Ich werde lügen. Ich werde sagen, daß Sie mich vergewaltigt haben.«
»Würdest du denn nicht wollen, daß ich meine Hände an deine Brüste lege, Nora?«
Ein Stechen im Magen zwang sie, sich im Bett nach vorne zu beugen. »Ich lasse mein Telefon anzapfen und alle Gespräche aufzeichnen, damit ich Beweise habe.«
»Dich am ganzen Körper küssen, Nora. Wäre das nicht hübsch?«
Das Stechen wurde ärger. Außerdem zitterte sie jetzt am ganzen Körper. Ihre Stimme brach mehrmals, als sie ihre letzte Drohung einsetzte: »Ich habe eine Pistole. Ich habe eine Pistole.«
»Heute nacht wirst du von mir träumen, Nora. Da bin ich ganz sicher. Du wirst davon träumen, daß ich dich überall küsse, deinen ganzen hübschen Körper... «
Sie knallte den Hörer auf den Apparat.
Dann rollte sie sich im Bett in seitliche Lage, zog die Schultern hoch, zog die Knie ein und umfaßte sie mit beiden Armen. Das Stechen hatte keine natürliche Ursache; es war ein-
zig und allein eine psychische Reaktion, ausgelöst von Furcht, Scham, Wut und ungeheurer innerer Verkrampfung.
Langsam ließ der Schmerz nach. Die Furcht legte sich, nur die Wut blieb.
Sie war so erschütternd naiv bezüglich der Welt und ihrem Getriebe, so wenig vertraut, mit Leuten umzugehen, daß sie nur funktionierte, wenn sie sich auf das Haus beschränkte, auf eine in sich abgeschlossene Welt ohne menschliche Kontakte. Sie wußte nichts über gesellschaftlichen Umgang. Sie war nicht einmal imstande gewesen, mit Garrison Dilworth, Tante Violets Anwalt - jetzt Noras Anwalt -, ein höfliches Gespräch zu führen. Sie waren zusammengekommen, um den Nachlaß zu regeln, und sie hatte seine Fragen so bündig wie möglich beantwortet, war in seiner Gegenwart mit gesenktem Blick, die Hände im Schoß verkrampft, dagesessen, schüchtern wie nur. Angst vor dem eigenen Anwalt! Wenn sie mit einem freundlichen Mann wie Garrison Dilworth nicht umgehen konnte, wie sollte sie je mit einem Tier wie Art Streck zu Rande kommen? In Zukunft würde sie es nicht mehr wagen, jemanden für eine Reparatur ins Haus zu lassen, ganz gleich, was kaputtging, und einfach in immer schlimmer werdendem Zerfall leben müssen. Denn der nächste Mann konnte wieder ein Streck sein - oder noch schlimmer. In Beibehaltung der Tradition, die ihre Tante eingeführt hatte, ließ sich Nora bereits die Lebensmittel vom nahen Supermarkt liefern, um nicht zum Einkaufen aus dem Haus gehen zu müssen. Jetzt aber würde sie sogar Angst davor haben, den Jungen, der die Sachen brachte, ins Haus zu lassen; er war nie auch nur im geringsten Maße zudringlich, anzüglich oder in irgendeiner Weise beleidigend gewesen. Aber eines Tages würde er vielleicht ihre Verwundbarkeit erkennen, wie Streck ...
Sie haßte Tante Violet.
Andererseits hatte Violet recht gehabt: Nora war eine Maus. Und wie allen Mäusen war ihr bestimmt, zu rennen, sich zu verstecken, im Dunkeln zu kauern.
Ihre Wut ließ nach, wie vorhin der stechende Schmerz. Das Gefühl der Verlassenheit trat an die Stelle des Zorns, und sie weinte leise.
Später saß sie an das Kopfteil gelehnt da, tupfte sich die geröteten Augen mit Kleenex, schneuzte sich und gelobte tapfer, nicht zur Einsiedlerin zu werden. Irgendwie würde sie die Kraft und den Mut finden, sich mehr als in der Vergangenheit in die Welt hinauszuwagen. Sie würde Menschen kennenlernen. Sich mit den Nachbarn bekannt machen, die Violet mehr oder weniger geschnitten hatte. Sie würde Freunde gewinnen. Weiß Gott, das würde sie. Und sie würde sich von Streck nicht einschüchtern lassen. Sie würde lernen, auch andere Probleme zu meistern, und eines Tages würde sie eine ganz andere sein als die, die sie jetzt war. Dieses Versprechen legte sie ab. Ein heiliges Gelöbnis.
Sie erwog, die Telefonschnur aus der Dose zu ziehen, um auf diese Weise Streck einen Strich durch die Rechnung zu machen, aber sie hatte Angst, sie könnte den Apparat brauchen. Was, wenn sie aufwachte, jemand im Haus hörte und das Telefon nicht schnell genug anstecken konnte?
Bevor sie das Licht ausschaltete und die Decke hochzog, schloß sie die Schlafzimmertür und sicherte sie mit dem Lehnsessel, indem sie diesen schräg unter dem Türknopf verspreiz-te. Im Bett, im Dunkeln, tastete sie nach dem Fleischermesser, das sie auf den Nachttisch gelegt hatte, und war beruhigt, als ihre Hand es ohne langes Suchen fand.
Nora lag auf dem Rücken, die Augen offen, hellwach. Fahles, bernsteinfarbenes Licht der Straßenlaternen fand seinen Weg durch die Fensterläden. Einander abwechselnde Streifen aus Schwarz und blassem Gold überzogen die Zimmerdecke, als spränge ein unendlich langer Tiger mit einem nicht endenden Satz über das Bett. Sie fragte sich, ob sie jemals wieder würde leicht einschlafen können.
Außerdem fragte sie sich, ob sie draußen in jener größeren Welt, die zu betreten sie gelobt hatte, jemanden finden würde, dem sie etwas bedeutete, der sich um sie - und für sie -sorgte. Gab es denn niemanden, der eine Maus lieben und hegen konnte?
Aus weiter Ferme erklang das Pfeifen eines Zuges, ein einziger, hohler, klagender Ton.