Er rannte die drei Stufen hinauf, riß die Küchentür auf, trat ein und knallte die Tür hinter sich zu. Er schob den Riegel vor - eine Sicherheitsmaßnahme, die er seit neun Jahren nicht mehr ergriffen hatte, nicht, seitdem er sich an die Ruhe im Canyon gewöhnt hatte.
Er ging durch die Hütte zur vorderen Tür und verriegelte auch diese. Die Heftigkeit, mit der die Furcht ihn überfallen hatte, überraschte ihn. Selbst wenn dort draußen ein bösartiges Tier war - ein tollwütiger Bär vielleicht, der aus den Bergen heruntergekommen war -, konnte es keine Türen öffnen und ihm in die Hütte folgen. Es bestand keine Notwendigkeit, die Riegel vorzuschieben, und doch fühlte er sich jetzt, da er es getan hatte, sicherer. Ein Instinktverhalten war das, und er verstand sich gut genug auf das Leben in der Wildnis, um zu wissen, daß man den Instinkten vertrauen sollte, selbst wenn sie zu scheinbar irrationalem Verhalten führten.
Okay. Er war also in Sicherheit. Kein Tier konnte eine Tür öffnen. Ein Bär sicherlich nicht, und höchstwahrscheinlich war es ein Bär.
Aber es hatte nicht wie ein Bär geklungen. Das war es, was so geisterhaft gewesen war. Es hatte wie nichts von dem geklungen, was in jenen Wäldern zu Hause sein konnte. Er war mit den Lebewesen der Nachbarschaft vertraut, kannte all die Rufe, Schreie und anderen Laute, die sie von sich gaben.
Das einzige Licht im vorderen Zimmer kam vom offenen Kamin, und es reichte nicht, die Schatten aus den Ecken zu vertreiben. Gebilde, die der Flammenschein erzeugte, huschten über die Wände. Zum erstenmal hätte Wes es begrüßt, Elektrizität zu haben.
Er besaß eine Remington-Schrotbüchse, mit der er gelegentlich auf Jagd ging, um Abwechslung auf seinen Speisezettel zu bringen und nicht ausschließlich von im Laden gekauften Lebensmitteln abhängig sein zu müssen. Sie lag auf einem Gestell in der Küche. Er überlegte, ob er die Schrotflinte herunterholen und laden sollte; aber jetzt, wo er sich hinter verschlossenen Türen sicher wußte, begann es ihm peinlich zu werden, daß er in Panik geraten war. Wie ein Greenhorn, weiß Gott. Wie ein fettärschiger Vorstadtbewohner, der beim Anblick einer Feldmaus zu kreischen anfing. Hätte er bloß einen Schrei ausgestoßen und in die Hände geklatscht, er würde das Ding in den Büschen wahrscheinlich verscheucht haben.
Selbst wenn seine Reaktion dem Instinkt angelastet werden konnte, hatte er sich jedenfalls nicht dem Bild entsprechend verhalten, das er sich von sich selbst machte: dem des hartgesottenen Canyonbewohners. Wenn er sich jetzt ohne zwingende Notwendigkeit mit der Flinte bewaffnete, kostete ihn das den Großteil seiner Selbstachtung, die für ihn wichtig war: Denn die einzige Meinung über Wes Dalberg, die bei Wes zählte, war die, die er selbst von sich hatte. Nein, die Schrotflinte blieb in der Küche.
Wes riskierte es, an das große Wohnzimmerfenster zu treten. Jemand, der vor etwa zwanzig Jahren die Hütte von der Forstverwaltung gemietet hatte, hatte diese Änderung vorgenommen; man hatte damals das alte schmale Sprossenfenster ausgebaut, ein größeres Loch in die Wand geschlagen und ein großes Fenster eingesetzt, das aus einer einzigen Scheibe bestand, um den herrlichen Blick auf den Wald genießen zu können.
Ein paar silbrig im Mond glitzernde Wolken tauchten phosphoreszierend vor der samtigen Schwärze des Nachthimmels auf. Mondlicht sprenkelte den Hof, schimmerte auf der Kühlerhaube und der Windschutzscheibe von Wes' CherokeeJeep und zog die schattenhaften Konturen der Bäume nach. Zuerst bewegte sich nichts außer ein paar Zweigen, die leicht im sanften Wind schwankten.
Er beobachtete die Waldszene einige Minuten lang. Da er nichts Außergewöhnliches sah oder hörte, kam er zu dem Schluß, das Tier sei weitergezogen. Beträchtlich erleichtert und mit einem erneuten Gefühl der Verlegenheit, schickte er sich an, vom Fenster wegzugehen - da entdeckte er in der Nähe des Jeeps eine Bewegung. Er kniff die Augen zusammen, sah nichts und blieb ein oder zwei Minuten lang wachsam. Gerade als er zu dem Schluß kam, er habe sich die Bewegung eingebildet, sah er sie wieder; etwas, das hinter dem Jeep hervorkam. Er beugte sich näher ans Fenster.
Etwas rannte quer über den Hof in Richtung Hütte, schnell und flach am Boden. Das Mondlicht, statt zu enthüllen, wer der Feind war, ließ seine Konturen zerfließen und machte ihn nur noch rätselhafter. Das Ding raste auf die Hütte zu. Und dann ganz plötzlich - Herrgott im Himmel! - befand sich das Geschöpf in der Luft, etwas Fremdartiges das geradenwegs durch die Dunkelheit auf ihn zugeflogen kam Wes schrie auf. Im nächsten Augenblick explodierte das große Fenster beim Aufprall der Bestie, und Wes brüllte, aber das Brüllen dauerte nur Augenblicke.
9
Weil Travis nicht viel zu Trinken pflegte, reichten drei Biere aus, um ihn vor Schlaflosigkeit zu bewahren Sekunden nachdem er den Kopf auf das Kissen gelegt hatte war er eingeschlafen. Er träumte, er sei Stallmeister in einem Zirkus, in dem alle auftretenden Tiere sprechen konnten. Nach jeder Vorstellung besuchte er sie in ihren Käfigen, wo jedes Tier ihm ein Geheimnis verriet, das ihn in Erstaunen setzte, obwohl er es gleich wieder vergaß, sobald er zum nächsten Käfig und dem nächsten Geheimnis weiterging.
Um vier Uhr morgens wachte er auf und sah Einstein am Schlafzimmerfenster. Der Hund stand, die Vorderpfoten auf dem Fensterbrett, die Konturen des Kopfes vom Mondlicht nachgezeichnet, und starrte wachsam in die Nacht hinaus.
»Was ist denn. Junge?« fragte Travis.
Einstein warf ihm einen Blick zu und wandte dann seine Aufmerksamkeit wieder der vom Mondlicht überfluteten Nacht zu. Er winselte leise und stellte die Ohren auf.
»Jemand draußen?« fragte Travis, stieg aus dem Bett und schlüpfte in seine Jeans.
Der Hund ließ sich auf alle viere fallen und rannte aus dem Schlafzimmer.
Travis fand ihn an einem anderen Fenster im abgedunkelten Wohnzimmer, jetzt auf dieser Seite des Hauses die Nacht prüfend. Neben dem Hund in die Hocke gehend, legte er ihm eine Hand auf den breiten, pelzigen Rücken und sagte: »Was ist denn los? Hm?«
Einstein preßte die Schnauze gegen das Glas und wimmerte unruhig.
Travis konnte weder auf dem Rasen vor dem Haus noch auf der Straße etwas Bedrohliches sehen. Dann kam ihm plötzlich der Gedanke, und er sagte: »Machst du dir immer noch Sorgen über das, was dich heute morgen im Wald gejagt hat?«
Der Hund schaute ihn ernst an.
»Was war das dort im Wald?« wollte Travis wissen.
Einstein winselte erneut und zitterte.
Bei der Erinnerung an die blanke Angst, die den Retriever
- und auch ihn selbst - in den Santa-Ana-Vorbergen befallen hatte, und an das unheimliche Gefühl, daß da etwas Unnatürliches sie beschlich, fröstelte Travis. Er blickte in die Nacht hinaus. Die spitzen schwarzen Muster der Blätter der Dattelpalme stachen ins fahlgelbe Licht der Straßenlampe. Ein steter Wind jagte kleine Staubwirbel, Blätter und Unrat über das Pflaster, ließ sie sekundenlang fallen, daß sie wie tot liegen-blieben, und erweckte sie dann aufs neue zum Leben. Eine einsame Motte prallte vor Travis und Einstein leise gegen das Fenster, offenbar den Widerschein des Mondes oder der Straßenlampe für eine Flamme haltend.
»Hast du Angst, daß es noch immer hinter dir her ist?« fragte er.
Der Hund wuffte einmal leise.
»Nun, ich denke nicht«, sagte Travis. »Ich glaube, du begreifst nicht ganz, um wieviel weiter im Norden wir sind. Wir bewegten uns auf Rädern, dieses Ding aber hätte zu Fuß folgen müssen, und das schaffte es nicht. Was es auch war, es ist weit hinter uns, Einstein, weit unten im Orange County, und kann nicht wissen, wohin wir gegangen sind. Du brauchst dir seinetwegen keine Sorgen mehr zu machen. Verstehst du?« Einstein stieß Travis' Hand an und leckte sie, als wäre er beruhigt und dankbar. Aber dann sah er wieder zum Fenster hinaus und gab einen kaum hörbaren wimmernden Laut von sich.