Travis mußte ihm zureden, damit er wieder ins Schlafzimmer zurückkehrte. Dort wollte der Hund neben seinem Herrn auf dem Bett liegen, und um das Tier zu beruhigen, protestierte Travis nicht.
Der Wind murmelte und klagte im Dachsims des Bungalows.
Manchmal knisterte es irgendwo im Haus, vertraute mitternächtliche Geräusche von sich dehnendem oder entspannendem Material.
Motorgebrumm, das Flüstern von Reifen, ein Wagen rollte auf der Straße vorbei.
Erschöpft von den seelischen wie auch körperlichen Anstrengungen des Tages, war Travis bald eingeschlafen.
Gegen Morgen, in halbwachem Zustand, gewahrte er, daß Einstein wieder am Schlafzimmerfenster war und Wache hielt. Er murmelte den Namen des Retrievers und klopfte müde auf die Matratze. Aber Einstein blieb auf Wache, und Travis döste wieder ein.
VIER
1
Am Tag nach ihrer Begegnung mit Art Streck unternahm Nora Devon einen langen Spaziergang; sie hatte sich vorgenommen, Teile der Stadt zu erkunden, die sie nie zuvor gesehen hatte.
Mit Violet hatte sie einmal die Woche kurze Spaziergänge gemacht. Seit dem Tod der alten Frau ging Nora immer noch aus, wenn auch nicht mehr so oft, entfernte sich dabei aber nie weiter von ihrem Haus als sechs oder acht Blocks. Heute wollte sie viel weiter gehen. Dies sollte der erste kleine Schritt sein auf dem langen Weg zu Freiheit und Selbstachtung.
Ehe sie aufbrach, überlegte sie, ob sie später in irgendeinem Restaurant einen kleinen Lunch einnehmen sollte. Aber sie war noch nie in einem Restaurant gewesen. Die Aussicht darauf, sich mit einem Kellner auseinanderzusetzen und in Gesellschaft Fremder speisen zu müssen, erfüllte sie mit Furcht. Also gab sie statt dessen einen Apfel, eine Orange und zwei Haferflockenplätzchen in eine kleine Papiertüte. Sie würde allein zu Mittag essen, irgendwo in einem Park. Selbst das war für sie noch revolutionär. Schön eins nach dem anderen.
Der Himmel war wolkenlos, die Luft warm. Im lebendigen frischen Grün sahen die Bäume wie neu aus, regten sich in einer Brise, die gerade kräftig genug war, den heißen Strahlen der Sonne etwas von ihrer Schärfe zu nehmen.
Während Nora an gepflegten Häusern entlangschlenderte, die meisten von ihnen im spanischen Architekturstil erbaut, schaute sie mit neuer Wißbegierde nach Türen und Fenstern, dabei überlegend, wer wohl die Leute waren, die dahinter wohnten. Waren sie glücklich? Traurig? Verliebt? Welche Art von Musik, welche Bücher liebten sie? Welches Essen? Planten sie Ferien in exotischen Ländern, Abende im Theater, Besuche in Nachtclubs?
Früher hatte sie nie über diese Menschen nachgedacht, weil sie wußte, deren Leben und das ihre würden sich nie kreuzen.
Über sie nachzudenken wäre Zeitvergeudung gewesen. Aber jetzt...
Wenn sie anderen Fußgängern begegnete, hielt sie den Kopf gesenkt und wandte das Gesicht ab, wie sie das früher immer getan hatte. Aber nach einer Weile fand sie die Courage, einige von ihnen anzusehen. Sie war überrascht, als viele ihr zulächelten und »Hallo« sagten. Und nach einer Weile hörte sie sich zu ihrer noch größeren Überraschung sogar den Gruß erwidern.
Als sie das Gerichtsgebäude erreichte, blieb sie stehen, um die gelben Yucca-Blüten und die fetten roten Bougainvilleen zu bewundern, die an der rauh verputzten Mauer emporkletterten und sich oberhalb eines der hohen Fenster durch das kunstvoll geschmiedete Eisengitter wanden.
An der 1815 erbauten Mission von Santa Barbara blieb sie am Fuße der Eingangstreppe stehen und betrachtete die hübsche Fassade der alten Kirche. Dann schlenderte sie durch den Hof mit seinem heiligen Garten und bestieg schließlich den westlichen Glockenturm.
Langsam begann sie zu begreifen, weshalb Santa Barbara in einigen der vielen Bücher, die sie gelesen hatte, als einer der schönsten Orte der Welt bezeichnet wurde. Fast ihr ganzes Leben hatte sie hier verbracht. Weil sie sich aber mit Violet im Haus verkroch, und wenn sie einmal ausgingen, wenig mehr gesehen hatte als die Spitzen ihrer Schuhe, nahm sie die Stadt jetzt zum erstenmal wahr. Und das erregte und beglückte sie. Um ein Uhr setzte sie sich im Alameda-Park auf eine Bank in der Nähe dreier uralter, riesiger Dattelpalmen mit Blick auf den Teich. Ihre Füße begannen zu schmerzen, aber sie hatte nicht vor, bald nach Hause zurückzukehren. Sie öffnete ihre Tüte und begann ihr Mittagessen mit dem gelben Apfel. Noch nie hatte etwas auch nur annähernd so köstlich geschmeckt. Weil sie Hunger hatte, aß sie gleich darauf die Orange, warf die Schale in die Tüte und war gerade im Begriff, ins erste Haferflockenplätzchen zu beißen, als Art Streck sich neben sie setzte.
»Hallo, Hübsche.«
Er trug nur blaue Turnhosen, Laufschuhe und dicke weiße Wollsocken. Offensichtlich war er nicht gelaufen, denn er schwitzte nicht. Er war muskulös, mit breitem Brustkasten
und tiefgebräunt und wirkte sehr männlich. Seine Kleidung diente einzig und allein dem Zweck, seinen athletischen Körper zur Schau zu stellen, und so wandte Nora sofort die Augen ab.
»Schüchtern?« fragte er.
Sie konnte nicht sprechen, weil der Bissen von dem Haferflockenplätzchen ihr im Mund steckengeblieben war. Sie brachte auch keinen Speichel zuwege. Sie fürchtete zu erstik-ken, wenn sie versuchte, das Plätzchen zu schlucken, aber sie konnte es nicht einfach ausspucken.
»Meine süße, schüchterne Nora«, sagte Streck.
Nach unten blickend, sah sie, wie heftig ihre rechte Hand zitterte. Das Plätzchen zerbröckelte zwischen ihren Fingern zu Krümeln, die auf das Pflaster zwischen ihren Füßen hinunterfielen.
Sie hatte sich gesagt, dieser Spaziergang, der den ganzen Tag dauern sollte, sei ein erster Schritt zur Befreiung, jetzt aber mußte sie sich eingestehen, daß es noch einen anderen Grund gegeben hatte, das Haus zu verlassen: Strecks Annäherungsversuchen aus dem Weg zu gehen. Sie hatte Angst gehabt, zu Hause zu bleiben, Angst, er werde immer wieder anrufen. Jetzt hatte er sie im Freien gefunden, außerhalb des Schutzes ihrer verriegelten Fenster und versperrten Türen.
Und das war noch viel schlimmer als das Telefon, unendlich schlimmer.
»Sieh mich an, Nora!«
»Nein.«
»Sieh mich an!«
Das letzte Stück des sich auflösenden Plätzchens entfiel ihrer rechten Hand.
Streck nahm ihre linke Hand, sie versuchte ihm Widerstand zu leisten, aber er drückte zu, quetschte ihre Fingerknochen zusammen, und so gab sie nach. Er legte ihre Hand mit der Handfläche nach unten auf seinen nackten Schenkel. Sein Fleisch war fest und heiß.
Ihr wurde übel, ihr Herz schlug wie wild, sie wußte nicht, ob sie sich zuerst übergeben oder in Ohnmacht fallen würde. Ihre Hand langsam auf seinem nackten Oberschenkel hin und her schiebend, sagte er: »Ich bin genau das, was du brauchst. Hübsche. Ich kann's dir besorgen.«
Das Haferflockenplätzchen verklebte ihr den Mund, als wäre es aufgequollene Paste. Sie behielt den Kopf unten, hob aber die Augen, um unter gesenkten Wimpern hervorzuschauen. Sie hoffte jemanden in der Nähe zu entdecken, den sie zu Hilfe rufen konnte, aber da waren nur zwei junge Mütter mit ihren kleinen Kindern, und auch die waren zu weit weg, um helfen zu können.
Jetzt nahm Streck ihre Hand von seinem Schenkel und legte sie auf seine nackte Brust. »Hast wohl einen hübschen Spaziergang gemacht, wie?« sagte Streck. »Hat dir die Mission gefallen? Wie? Und waren die Yucca-Blüten am Gerichtsgebäude nicht hübsch?«
Und so ging es in diesem lässigen, selbstzufriedenen Ton weiter. Er erkundigte sich, wie ihr andere Dinge gefallen hätten, und sie erkannte, daß er ihr den ganzen Morgen gefolgt war, in seinem Wagen oder zu Fuß. Sie hatte ihn nicht bemerkt, aber es gab keinen Zweifel, denn er wußte über jede ihrer Bewegungen seit Verlassen des Hauses Bescheid, und das ärgerte und erschreckte sie mehr als alles bisherige.