Travis sagte: »Es tut mir leid. Er hat noch nie ...«
»Herrgott«, sagte der Mann in Turnhosen, »Sie können doch einen bissigen Hund nicht einfach frei im Park herumlaufen lassen!«
»Er ist nicht bissig«, sagte Travis. »Er...«
»Blödsinn«, sagte der Mann so heftig, daß dabei Speichel flog. »Das verdammte Biest hat versucht, mich zu beißen. Sie haben wohl Spaß daran, angezeigt zu werden, oder?«
»Ich weiß nicht, was in ihn gefah ... «
»Schaffen Sie ihn weg von hier! » verlangte der Mann in Turnhosen.
Verlegen nickend wandte Travis sich zu Einstein um und sah, daß die Frau den Retriever auf die Bank gelockt hatte. Einstein saß jetzt neben ihr, die Augen ihr zugewendet, die Vorderpfoten auf ihrem Schoß, und sie streichelte ihn nicht nur, sondern drückte ihn an sich. Die Art und Weise, wie sie sich an ihm festklammerte, sah in der Tat aus, als wäre der Hund eine Art Rettungsanker für sie.
»Sie sollen ihn von hier wegschaffen!« sagte der Mann wütend.
Der Bursche war höher, breiter in den Schultern und hatte größeren Brustkorbumfang als Travis, trat jetzt ein paar Schritte vor, so daß er Travis überragte, um ihn mit seiner überlegenen Größe einzuschüchtern. Seine aggressive Art, sein Blick und Benehmen, die wohl gefährlich aussehen sollten, ließen erkennen, daß er gewohnt war, sich durchzusetzen. Travis verachtete solche Leute.
Einstein drehte den Kopf herum und sah den Mann an, legte die Zähne frei und knurrte tief in der Kehle.
»Hören Sie, Kumpel«, sagte der Mann in Turnhosen ärgerlich. »Sie sind wohl taub, oder wie? Ich hab' gesagt, daß der Hund an die Leine gehört, und ich sehe, daß Sie da eine Leine in der Hand halten. Worauf, zum Teufel, warten Sie also?«
Travis begann zu erkennen, daß hier irgend etwas nicht stimmte. Der rechtschaffene Zorn des Mannes war übertrieben
- so als hätte man ihn bei etwas Ungehörigem ertappt, als versuchte er seine Schuld zu überdecken, indem er sofort in die Offensive überging. Und die Frau benahm sich auch seltsam. Sie hatte kein Wort gesagt. Sie war totenbleich, ihre dünnen Hände zitterten. Wie sie den Hund streichelte und sich an ihn klammerte, war nicht Einstein es, der ihr Angst machte. Travis fragte sich, ob wohl ein Paar so unterschiedlich gekleidet in den Park gehen würde; er in Turnhosen, sie im faden Hauskleid. Er sah, wie die Frau dem Mann verstohlene, verängstigte Blicke zuwarf, und plötzlich wußte er, daß diese beiden nicht zusammengehörten; zumindest nicht nach Ansicht der Frau - und daß der Mann tatsächlich Anlaß zu Schuldgefühlen hatte.
»Miss«, sagte Travis, »ist bei Ihnen alles in Ordnung?« »Natürlich nicht«, sagte der Mann. »Ihr verdammter Hund hat uns angebellt und nach uns geschnappt... «
»Im Augenblick scheint er Sie aber nicht gerade zu terrorisieren«, sagte Travis, suchte den Blick des Mannes und hielt ihn fest.
Er hatte sowas wie Hafermehlteig an der Wange kleben.
Travis sah in einer Tüte, die neben der Frau auf der Bank lag, ein Haferplätzchen und ein zweites, das zwischen ihren Füßen halbzerdrückt auf dem Boden lag. Was, zum Teufel, war hier vorgegangen?
Der Mann in Turnhosen schaute Travis durchdringend an und wollte etwas sagen. Aber dann warf er einen Blick auf die Frau und Einstein und erkannte offenbar, daß seine gespielte Empörung nicht mehr passend war. Mürrisch bemerkte er: »Nun ... jedenfalls sollten Sie den verdammten Köter anhängen.«
»Oh, ich glaube nicht, daß er jetzt jemanden belästigt«, sagte Travis und rollte die Leine ein. »Es war wohl nur eine kleine Entgleisung.«
Immer noch wütend, aber unsicher geworden, blickte der Mann in Turnhosen auf die zusammengekauert dasitzende Frau und sagte: »Nora?«
Sie gab keine Antwort, sondern fuhr fort, Einstein zu streicheln.
»Bis später dann«, meinte er. Und als er keine Antwort bekam, wandte er sich wieder Travis zu, kniff die Augen zusammen und sagte: »Wenn der Hund nach mir schnappen sollte... «
»Das wird er nicht«, unterbrach ihn Travis. »Sie können ruhig Ihren Lauf weitermachen. Er wird Sie nicht belästigen.« Der Mann sah sich mehrere Male nach ihnen um, während er langsam durch den Park auf den nächsten Ausgang zutrabte. Dann war er verschwunden.
Auf der Bank hatte Einstein es sich inzwischen bequem gemacht und der Frau den Kopf in den Schoß gelegt.
»Der hat sich richtig mit Ihnen angefreundet«, sagte Travis.
Sie blickte nicht auf und streichelte Einstein mit einer Hand, während sie meinte: »Wirklich, ein netter Hund.«
»Ich hab' ihn gestern bekommen.«
Sie sagte nichts.
Er nahm am anderen Ende der Bank Platz, so daß Einstein zwischen ihnen lag. »Ich heiße Travis.«
Sie reagierte nicht darauf, sondern kratzte Einstein hinter den Ohren. Der Hund gab einen zufriedenen Laut von sich. »Travis Cornell«, sagte er.
Endlich hob sie den Kopf und sah ihn an. »Nora Devon.« »Freut mich. Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Sie lächelte, blieb aber nervös.
Obwohl sie ihr Haar schlicht und glatt trug und keinerlei Make-up benutzte, war sie recht anziehend. Das Haar war dunkel und glänzend, die Haut makellos, und sie hatte grüne Streifen in den grauen Augen, die in der hellen Maisonne von innen heraus zu strahlen schienen.
Als fühlte sie seinen wohlgefälligen Blick und hätte Angst davor, brach sie sofort den Augenkontakt ab und senkte wieder den Kopf.
»Miss Devon ...«, sagte er, »stimmt etwas nicht?«
Sie sagte nichts.
»Dieser Mann ... hat er Sie belästigt?«
»Es ist schon in Ordnung«, sagte sie.
Mit dem gesenkten Kopf, den tiefhängenden Schultern, als laste ein tonnenschweres Gewicht des Argwohns auf ihr, sah sie so verwundbar aus, daß Travis es nicht fertigbrachte, einfach aufzustehen, wegzugehen und sie mit ihren Problemen alleinzulassen. »Wenn dieser Mann Sie belästigt hat«, meinte er, »denke ich, sollten wir einen Polizisten holen ... «
»Nein«, sagte sie leise und doch eindringlich. Sie machte sich von Einstein los und stand auf.
Der Hund krabbelte von der Bank, stellte sich neben sie und sah sie liebevoll an.
Travis erhob sich ebenfalls und meinte: »Ich will mich natürlich nicht in Ihre Angelegenheiten mischen ...«
Sie ging eilig davon, verließ den Park auf einem anderen Weg als dem, den der Läufer eingeschlagen hatte.
Einstein lief ihr nach, blieb aber, als Travis ihn rief, stehen und kehrte widerstrebend um.
Verwundert sah Travis ihr nach, bis sie verschwunden war.
Ein rätselhaftes, von irgend etwas geplagtes Wesen in einem grauen Kleid, das so formlos und nichtssagend war wie das Gewand einer Mennonitin oder der Angehörigen irgendeiner anderen Sekte. Diese Leute waren bemüht, die weibliche Gestalt in Gewänder zu hüllen, die einen Mann nicht in Versuchung bringen konnten.
Er und Einstein setzten ihren Spaziergang durch den Park fort. Später gingen sie an den Strand, wo der Anblick der wogenden See und der schäumenden Brecher den Retriever sichtlich in Erstaunen versetzte. Er blieb mehrere Male stehen, um ein oder zwei Minuten aufs Meer hinauszustarren, und tobte dann vergnügt in der Brandung herum. Später, als sie wieder zu Hause waren, versuchte Travis Einstein an den Büchern zu interessieren, die ihn letzten Abend so in Erregung versetzt hatten, in der Hoffnung, diesmal herauszufinden, was der Hund dabei zu entdecken hoffte. Einstein beschnüffelte die Bände, die Travis ihm brachte, gelangweilt - und gähnte.
Am Nachmittag drängte sich die Erinnerung an Nora Devon überraschend lebhaft in Travis' Gedanken. Sie brauchte keine auffallende Kleidung, um das Interesse eines Mannes zu wek-ken. Dieses Gesicht und die grüngesprenkelten Augen reichten schon.