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Nach nur wenigen Stunden Schlaf nahm Vincent Nasco eine frühe Maschine nach Acapulco. Er bezog ein Zimmer in einem riesigen Hotel an der Bucht, einem glitzernden, aber seelenlosen Hochbau, der zur Gänze aus Glas, Beton und Terrazzo bestand. Er zog luftige weiße Baumwollhosen, weiße Leinenschuhe und ein hellblaues Ban-Lon-Hemd an und machte sich auf die Suche nach Dr. Lawton Haines.
Haines machte in Acapulco Ferien. Er war neununddreißig Jahre alt, einen Meter siebenundsiebzig groß, wog zweiundsiebzig Kilo, hatte schwer zu bändigendes dunkelbraunes Haar und sollte angeblich wie Al Pacino aussehen, wenn man davon absah, daß er ein rotes Muttermal von der Größe einer Halb-Dollar-Münze auf der Stirn hatte. Er kam mindestens zweimal im Jahr nach Acapulco, wohnte immer im eleganten Hotel Las Brisas an der Anhöhe östlich der Bucht und speiste zu Mittag mit Vorliebe ausgedehnt in einem Restaurant neben dem Hotel Caleta, das er wegen seiner Margaritas und seinem Ausblick auf die Playa de Caleta bevorzugte.
Zwanzig nach zwölf saß Vince in einem mit bequemen gelb und grün gemusterten Kissen ausgestatteten Rohrstuhl an einem fensterseitigen Tisch jenes Restaurants. Er hatte Haines gleich beim Betreten des Lokals entdeckt. Der Doktor saß an einem anderen Fenstertisch, drei Tische von Vince entfernt und durch eine Topfpalme etwas abgeschirmt. Er befand sich in Gesellschaft einer fantastisch aussehenden Blondine, und sie aßen Garnelen und tranken Margaritas. Sie trug weiße Hosen und ein buntgestreiftes Oberteil, und die Hälfte der Männer im Lokal starrte sie an.
Vince fand, Haines sehe eher wie Dustin Hoffman als wie AI Pacino aus. Er hatte die scharfen Züge Hoffmans, inklusive der Nase, und war im übrigen genau so, wie man ihn beschrieben hatte. Der Typ trug rosafarbene Baumwollhosen, ein hellgelbes Hemd und weiße Sandalen, eine Aufmachung, die nach Vinces Ansicht selbst für diese Breiten etwas extrem war. Vince nahm Albondigasuppe, Enchiladas aus Meeresfrüchten in Salsa Verde und eine alkoholfreie Margarita zu sich und bezahlte seine Rechnung, als Haines und die Blondine sich zum Gehen anschickten.
Die Blondine fuhr einen roten Porsche. Vince folgte ihnen in einem gemieteten Ford mit zu vielen Meilen auf dem Buckel, der klapperte wie das Schlagzeug einer Mariachi-Kapelle und dessen Fußmatte süßlich nach Schimmel roch.
Am Las Brisas setzte die Blondine Haines am Parkplatz ab, fuhr allerdings erst weiter, nachdem sie wenigstens fünf Minuten neben ihrem Wagen stehend einander im hellen Tageslicht, jeder die Hände am Popo des anderen, geküßt hatten.
Vince war angewidert. Er hatte erwartet, Haines würde mehr Gefühl für Anstand haben. Der Mann war schließlich Akademiker. Wenn sich schon gebildete Leute nicht gemäß den überlieferten Verhaltensnormen benahmen, wer dann sollte es tun? Brachte man den Leuten heutzutage auf den Universitäten keine Manieren mehr bei? Kein Wunder, wenn die Welt mit jedem Jahr roher und unflätiger wurde.
Die Blonde fuhr in ihrem Porsche davon, und Haines verließ den Parkplatz in einem weißen Mercedes 560 SL Sportcoupe.
Es war bestimmt kein Mietwagen, und Vince fragte sich, wo der Doktor ihn herhatte.
Haines überließ den Wagen vor einem anderen Hotel dem Parkwächter, und Vince tat es ihm gleich. Er folgte dem Doktor durch die Hotelhalle zum Strand, wo es zunächst den Anschein hatte, als stünde ihnen beiden ein ereignisloser Spaziergang am Ufer bevor. Aber Haines ließ sich neben einem fantastisch aussehenden mexikanischen Mädchen in einem Bänder-Bikini nieder. Sie war dunkel, herrlich proportioniert und um fünfzehn Jahre jünger als der Doktor. Sie nahm auf einer Liege ein Sonnenbad und hatte die Augen geschlossen. Haines küßte sie auf den Hals und erschreckte sie damit. Of fensichtlich kannte sie ihn, denn sie schlang lachend die Arme um ihn.
Vince ging ein Stück den Strand hinunter, kehrte dann um und setzte sich hinter Haines und dem Mädchen in den Sand. Nur ein sonnenbadendes Paar befand sich zwischen ihm und den beiden. Daß Haines ihn bemerken könnte, befürchtete er nicht. Der Doktor schien nur für auserlesene weibliche Anatomie Augen zu haben. Zudem besaß Vince Nasco trotz seiner Größe die besondere Gabe, eins zu werden mit dem Hintergrund.
Draußen in der Bucht ließ sich ein Tourist, hinter einem Motorboot hoch oben an einem Fallschirm hängend, durch die Lüfte ziehen. Die Sonne fiel gleich einem nicht endenden Regen goldener Dublonen auf den Sand und die See.
Nach zwanzig Minuten küßte Haines das Mädchen auf die Lippen und den Ansatz ihrer Brüste und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Das Mädchen rief ihm nach: »Heute abend um sechs!« Und Haines sagte: »Ich werde da sein.«
Nun begannen Haines und Vince mit einer kleinen Vergnügungsfahrt. Zuerst dachte Vince, Haines habe ein bestimmtes Ziel im Sinn, aber nach einer Weile hatte es den Anschein, daß sie einfach ziellos auf der Küstenstraße dahinrollten und die Szenerie genossen. Sie fuhren am Revolcadero Beach vorbei, und es ging weiter, Haines in seinem weißen Mercedes, Vince so weit hinter ihm, wie er das in seinem Ford wagen durfte. Schließlich erreichten sie einen Aussichtspunkt, wo Haines von der Straße seitlich abschwenkte und neben einem Wagen parkte, dem soeben vier grellbunt gekleidete Touristen entstiegen. Vince parkte ebenfalls und ging zum Schutzgitter am Rand des Steilabbruchs, von wo aus man einen wahrhaft grandiosen Blick auf die Küste und auf die Wellen hatte, die sich mehr als dreißig Meter tief unten donnernd am felsigen Ufer brachen.
Die Touristen in den Papageienhemden und gestreiften Hosen hatten ihrem Entzücken über den Ausblick zur Genüge freien Lauf gelassen, schossen ihre letzten Fotos, entledigten sich ihrer letzten Abfälle und zogen weiter, Vince und Haines allein an der Klippe zurücklassend. Der einzige Verkehr auf der Straße war ein näher kommender schwarzer TransAm. Vince wartete darauf, daß der Wagen vorbeifuhr. Anschließend würde er Haines überraschen.
Aber statt vorbeizufahren, schwenkte der TransAm von der Straße ab und parkte neben Haines' Mercedes. Ein großartig aussehendes, etwa fünfundzwanzigjähriges Mädchen stieg aus. Sie eilte auf Haines zu. Sie sah wie eine Mexikanerin aus, aber mit einem Quentchen chinesischen Blutes, sehr exotisch. Sie trug ein weißes Oberteil und weiße Shorts und hatte die aufregendsten Beine, die Vince je gesehen hatte. Sie und Haines gingen ein Stück am Geländer entlang, bis sie reichliche zehn Meter von Vince entfernt standen, worauf sie in einen Clinch gingen, der Vince die Schamröte ins Gesicht trieb. Während der nächsten paar Minuten schob Vince sich am Geländer auf sie zu, wobei er sich hier und da gefährlich weit hinausbeugte und den Hals streckte, um die von Gischt gekrönten Wellen anzustarren, die das Wasser fünf Meter hoch in die Luft schleuderten, dabei gelegentlich »Mann, o Mann!« rufend, wenn ein besonders mächtiger Brecher gegen die schroffen Felsvorsprünge prallte. Die ganze Zeit über war er bemüht, den Eindruck zu erwecken, er bewege sich völlig unabsichtlich in ihre Richtung.
Obwohl sie ihm den Rücken zuwandten, trug die Brise Fetzen ihrer Unterhaltung bis zu ihm her. Die Frau schien in Sorge, ihr Mann könnte erfahren, daß Haines in der Stadt sei, und Haines bedrängte sie, sich wegen morgen abend zu entscheiden. Der Bursche war schamlos.
Jetzt war die Straße wieder frei von Verkehr, und Vince entschied, eine bessere Gelegenheit, Haines festzunageln, werde sich ihm kaum mehr bieten. Er legte die letzten paar Schritte, die ihn von dem Mädchen trennten, zurück, packte sie am Genick und am Gürtel ihrer Shorts, hob sie in die Luft und warf sie über das Geländer. Mit einem Schrei stürzte sie hinunter auf die Felsen.
Das Ganze geschah so schnell, daß Haines keine Zeit hatte zu reagieren. Noch während die Frau in der Luft war, wandte Vince sich dem verblüfften Doktor zu und schlug ihm die Faust ins Gesicht, dann ein zweites Mal, spaltete ihm beide Lippen, brach ihm das Nasenbein und schickte ihn ins Land der Träume.