Im späteren Verlauf des Nachmittags fuhr er mit seinem Lieferwagen nach Irvine und machte dort die Banodyne Laboratories ausfindig. Banodyne erhob sich vor der Silhouette der Santa-Ana-Berge. Die Firma hatte zwei Komplexe auf einem Areal stehen, das für eine so teure Gegend überraschend groß war: ein L-förmiges, zweistöckiges Gebäude und einen größeren, V-förmigen, einstöckigen Bau mit nur wenigen schmalen Fenstern, die ihn wie eine Festung aussehen ließen. Beide hatten moderne Linienführung, ein auffälliges Nebeneinander von Ebenen und sinnlichen Kurven, in dunkelgrünen und grauen Marmor gefaßt, alles recht attraktiv. Die Gebäude, umgeben von einem Parkplatz für Angestellte und einer riesigen gepflegten, von einigen Palmen und Korallenbäumen beschatteten Rasenfläche, waren in Wahrheit wesentlich größer, als es den Anschein hatte, denn das weite Flachland verzerrte den Maßstab.
Das Feuer war auf den V-förmigen Bau beschränkt geblieben, der die Labors beherbergte. Das einzige, was auf die Zerstörung hinwies, waren ein paar zerbrochene Scheiben und Rußflecken am Marmor über den schmalen Fensteröffnungen. Das Gelände war weder von einem Zaun noch einer Mauer umgeben, und Vince hätte, wenn er das gewollt hätte, es einfach betreten können, obwohl es an der dreispurigen Zufahrt ein einfaches Tor und ein Wächterhäuschen gab. Die Pistole, die der Wachmann am Gürtel trug, und der abweisende Charakter des Gebäudes, in dem sich die Forschungslabors befanden, ließen darauf schließen, daß das Gelände elektronisch überwacht wurde und daß in der Nacht komplizierte Alarmsysteme die Wachmannschaft von der Anwesenheit eines Eindringlings unterrichten würden, kaum daß dieser mehr als ein paar Schritte über den Rasen getan hatte. Der Brandstifter mußte sich also auf mehr als das bloße Legen von Bränden verstanden haben; er mußte auch recht gute Kenntnisse über Sicherheitssysteme besitzen.
Vince fuhr langsam an dem Areal vorbei, kehrte dann um und passierte es aus der anderen Richtung noch einmal. Die Wolken schatten zogen geisterhaft über den Rasen, glitten an den Gebäudewänden empor. Irgend etwas war an Banodyne, das es unheilverheißend, ja drohend wirken ließ. Dabei hatte Vince nicht den Eindruck, diese Wirkung erhielte unangemessen Nahrung von seinem Wissen um die Art der hier durchgeführten Forschungsarbeiten.
Er fuhr nach Huntington Beach zurück.
Da er nach Banodyne in der Hoffnung gefahren war, der Anblick des Geländes würde ihm bei seiner Entscheidung, wie er weiter vorgehen sollte, helfen, war er jetzt enttäuscht. Er wußte immer noch nicht, was er als nächstes tun sollte. Er kam einfach nicht dahinter, wem er seine Information um einen Preis verkaufen konnte, der das Risiko wert war, das er damit einging. Jedenfalls nicht der US-Regierung: Ihr gehörte die Information schließlich. Auch nicht den Sowjets, deren natürlichem Gegner, denn die Sowjets waren es, die ihn dafür bezahlt hatten, Weatherby, die Yarbecks, die Hudstons und Haines zu töten.
Natürlich konnte er nicht beweisen, daß er für die Sowjets gearbeitet hatte. Sie gingen recht geschickt vor, wenn sie einen Freiberufler wie ihn anheuerten. Aber er hatte ebensooft für diese Leute gearbeitet, wie für die Mafia, und aus den Hinweisen, die sich im Laufe der Jahre ergeben hatten, schloß er, daß es Sowjets waren. Hin und wieder hatte er mit anderen Leuten als den üblichen drei in L.A. zu tun, und die hatten deutlich mit russischem Akzent gesprochen. Außerdem standen die Zielpersonen gewöhnlich wenigstens in gewisser Hinsicht mit dem politischen Leben in Verbindung, oder sie waren, wie bei den Banodyne-Jobs, militärische Ziele. Die Informationen erwiesen sich stets als gründlicher, exakter und besser recherchiert als die Informationen, die die Mafia ihm lieferte, wenn er einen Auftrag für einen einfachen Gangland-Hit übernahm. Wer also außer den USA und den Sowjets würde für derart heikle Informationen aus dem Verteidigungsbereich bezahlen? Irgendein Diktator in der Dritten Welt, der nach einer Möglichkeit suchte, den Nuklearschild der mächtigen Länder zu umgehen. Das Francis-Projekt konnte irgendeinem Hitler im Taschenformat Vorteile verschaffen, seinem Land den Status einer. Weltmacht verleihen; also konnte es durchaus sein, daß er gut dafür bezahlen würde. Aber wer wollte schon das Risiko eingehen, mit Typen wie Gadhaffi Geschäfte zu machen?
Vince bestimmt nicht.
Außerdem, er verfügte zwar über das Wissen um die Existenz der revolutionären Forschungsarbeiten bei Banodyne, nicht aber über detaillierte Unterlagen darüber, wie die Wunder des Francis-Projekts zustande gekommen waren. Er hatte weniger zu verkaufen, als er ursprünglich angenommen hatte. Seit gestern aber reifte in ihm langsam eine Idee heran, nahm Gestalt an. Und jetzt, während er weiterhin darüber nachdachte, wer wohl potentieller Käufer für seine Informationen sein könnte, blühte diese Idee auf.
Der Hund.
Er war wieder zu Hause, saß in seinem Schlafzimmer und starrte auf die See hinaus. Selbst nach Einbruch der Nacht saß er noch da, obwohl er das Meer jetzt nicht mehr sehen konnte, und dachte über den Hund nach.
Hudston und Haines hatten ihm so viel über den Retriever erzählt, daß er langsam zu begreifen begann, daß sein Wissen über das Francis-Projekt, wenn auch von höchst explosiver Natur und äußerst wertvoll, nicht den tausendsten Teil des Wertes besaß, den der Hund selbst darstellte. Es gab viele Möglichkeiten, aus dem Retriever Kapital zu schlagen; er war eine Geldmaschine mit vier Beinen. Zum einen konnte er ihn an die Regierung oder an die Russen verhökern, und zwar für eine Schiffsladung Bargeld. Wenn es ihm gelang, den Hund zu finden, dann war er für alle Zeiten finanziell unabhängig.
Aber wie ihn ausfindig machen?
In ganz Südkalifornien mußte in aller Stille eine Suchaktion - so gut wie geheim und doch von gigantischem Ausmaß - im Gange sein. Das Verteidigungsministerium würde ohne Zweifel alles verfügbare Personal für diese Suche einsetzen, und wenn Vince den Suchern in die Quere kam, würden sie wissen wollen, wer er war. Die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, konnte er sich aber nicht leisten.
Außerdem: Falls er selbst in den Vorbergen des Santa-Ana-Gcbirges suchte, wohin die den Labors Entkommenen mit höchster Wahrscheinlichkeit geflohen waren, mochte er dem Falschen über den Weg laufen - den Golden Retriever verpassen und auf den Outsider stoßen. Das könnte gefährlich sein. Tödlich.
Vor dem Schlafzimmerfenster flossen der wolkengepanzerte Nachthimmel und die See in Schwärze ineinander, Schwärze, so finster wie die finstere Seite des Mondes.
2
Am Donnerstag, einen Tag nachdem Einstein Arthur Streck in Nora Devons Küche gestellt hatte, wurde Streck dem Untersuchungsrichter vorgeführt, und man vernahm ihn zu der Anklage des Einbruchs, der versuchten Körperverletzung und der versuchten Vergewaltigung. Da er bereits einmal wegen Vergewaltigung verurteilt worden war und zwei Jahre einer dreijährigen Kerkerstrafe abgesessen hatte, wurde eine hohe Kaution festgesetzt; er war nicht imstande, sie aufzubringen. Und da er niemanden ausfindig machen konnte, der ihm vertraute und die Kaution für ihn geleistet hätte, schien es ihm bestimmt, so lange in Untersuchungshaft zu bleiben, bis sein Fall vor Gericht kommen würde, was für Nora eine große Erleichterung bedeutete.
Am Freitag ging sie mit Travis Cornell zum Lunch.
Es verblüffte sie selbst, als sie sich sagen hörte, sie nehme seine Einladung an. Zwar war Travis offensichtlich richtig schockiert gewesen, als er von ihr erfuhr, in welchem Maße Streck sie belästigt hatte, und in gewissem Maße verdankte sie ihm ihre Unberührtheit, vielleicht sogar ihr Leben, weil er im allerletzten Augenblick gekommen war. Aber all die Jahre un-
ter Tante Violets Verfolgungswahn ließen sich nicht in wenigen Tagen wegwischen, und ein Rest unsinnigen Argwohns blieb in Nora haften. Sie wäre bedrückt, vielleicht sogar erschüttert gewesen, keineswegs aber überrascht, hätte Travis plötzlich den Versuch gemacht, sich ihr aufzudrängen. Seit frühester Kindheit dazu erzogen, von anderen Menschen das Schlimmste zu erwarten, konnten nur Freundlichkeit und Mitgefühl von Seiten anderer sie überraschen.