Dennoch ging sie mit ihm essen.
Zuerst wußte sie gar nicht, warum sie das tat.
Aber sie brauchte nicht lange nachzudenken, um die Antwort zu finden. Der Hund. Sie wollte dem Hund nahe sein, weil er ihr ein Gefühl der Sicherheit vermittelte und weil sie noch nie derart unverhohlene Zuneigung erfahren hatte, wie Einstein sie ihr so verschwenderisch zuteil werden ließ. Niemand hatte ihr bislang irgendeine Art von Zuneigung entgegengebracht, deshalb genoß sie sie, selbst wenn sie nur von einem Tier ausging. Außerdem wußte Nora im Innersten, daß Travis Cornell völlig vertrauenswürdig war, weil Einstein ihm vertraute. Und Einstein sah nicht aus, als würde er sich leicht täuschen lassen. Sie aßen in einem Cafe, wo man in einem mit Ziegeln ausgelegten Innenhof an ein paar leinengedeckten Tischen unter weiß-blau gestreiften Schirmen speisen konnte.
Die Hundeleine durfte sie an dem schmiedeeisernen Tischfuß anbinden, so daß Einstein bei ihnen bleiben konnte. Er benahm sich äußerst gesittet und blieb die meiste Zeit ruhig liegen. Gelegentlich hob er den Kopf und sah sie beide mit seinen seelenvollen Augen an, bis sie ihm ein paar Brocken von ihrem Essen abgaben, obwohl er keineswegs lästig darum bettelte.
Nora hatte keine große Erfahrung mit Hunden, fand aber, daß Einstein ungewöhnlich aufmerksam und wißbegierig war. Er wechselte häufig seine Position, um andere Gäste zu beobachten, die ihn zu interessieren schienen.
Für Nora war alles von Interesse. Dies war ihre erste Mahlzeit in einem Restaurant. Obwohl sie in zahllosen Romanen davon gelesen hatte, wie Leute in Restaurants zu Mittag oder zu Abend aßen, faszinierte und entzückte sie jede Einzelheit. Die Rose in der milchig-weißen Vase auf dem Tisch. Die Zündholzbriefchen mit Namensaufdruck des Restaurants. Die run-
jen Butterstückchen mit eingeprägtem Blumenmuster, die in einer Schale mit geschabtem Eis serviert wurden. Der Zitronenschnitz im Eiswasser. Die gekühlte Salatgabel als besonders erstaunliches Detail.
»Sehen Sie sich das an«, sagte sie zu Travis, nachdem man ihnen ihr Hauptgericht serviert hatte und der Kellner gegangen war.
Er sah ihren Teller mit gerunzelter Stirn an und fragte:
»Stimmt etwas nicht?«
»Nein, nein. Ich meine ... das Gemüse.«
»Babykarotten, Zwergkürbis.«
»Wo kriegen sie die so winzig her? Und da, sehen Sie doch, wie sie die Tomate eingeschnitten haben. Alles ist so hübsch. Wo nehmen die bloß die Zeit her, alles so hübsch zu arrangieren?«
Sie wußte, daß all die Dinge, die sie so in Erstaunen versetzten, für ihn Selbstverständlichkeiten waren, wußte, daß ihr Erstaunen ihm ihre Unerfahrenheit verriet und sie ihm als Kind erscheinen lassen mußte. Sie wurde häufig rot, stammelte manchmal verlegen, konnte sich aber dennoch der Kommentare über diese Wunder nicht enthalten. Travis lächelte ihr fast ununterbrochen zu, aber es war Gott sei Dank kein herablassendes Lächeln; das Vergnügen, das die Entdeckungen und all der kleine Luxus ihr bereiteten, schien ihn echt zu entzücken.
Als sie mit dem Kaffee und dem Nachtisch fertig waren -eine Kiwitorte für sie, Erdbeeren mit Sahne für Travis und ein Schokoladen-Eclair, das Einstein mit niemandem zu teilen brauchte -, hatte Nora das längste Gespräch ihres Lebens hinter sich. Sie verbrachten zweieinhalb Stunden, ohne daß ein einziges Mal eine peinliche Gesprächspause aufgetreten wäre, indem sie hauptsächlich über Bücher redeten, weil - in Anbetracht von Noras zurückgezogenem Leben - die Liebe zu Büchern praktisch das einzige war, was ihnen gemeinsam war. Das und die Einsamkeit. Ihre Meinung über verschiedene Schriftsteller schien ihn ernsthaft zu interessieren, und er hatte bei manchen Büchern faszinierende Einsichten gewonnen, die ihr verborgen geblieben waren. Sie lachte an diesem Nachmittag mehr, als sie in einem ganzen Jahr gelacht hatte. Die neue Erfahrung war so aufheiternd, daß ihr gelegentlich schwindlig wurde. Als sie schließlich das Restaurant verließen, konnte sie sich an fast nichts von dem, was gesprochen worden war, erinnern; alles verschwamm in einem farbigen Schleier. Was sie hier erlebte, war eine Überladung der Sinne, vergleichbar vielleicht mit dem, was ein Eingeborener empfinden mochte, wenn man ihn plötzlich mitten in New York City aussetzte, und sie brauchte Zeit, um all das, was ihr widerfahren war, in sich aufzunehmen und zu verarbeiten.
Da sie von ihrem Haus, wo Travis seinen Pick-up abgestellt hatte, zu Fuß zum Cafe gegangen waren, gingen sie den Weg zurück jetzt ebenfalls zu Fuß, und Nora hielt die ganze Zeit über die Hundeleine. Einstein versuchte kein einziges Mal, sich von ihr zu entfernen, verwickelte kein einziges Mal ihre Beine in die Hundeleine, sondern trottete immer neben oder vor ihr einher, lammfromm, hier und da mit so rührenden Augen zu ihr aufsehend, daß sie lächeln mußte.
»Ein braver Hund ist das«, sagte sie.
»Sehr brav«, pflichtete Travis ihr bei.
»So gesittet.«
»Ja, meistens.«
»Und so klug.«
»Sie sollten ihm nicht zu sehr schmeicheln.«
»Haben Sie Angst, er könnte eitel werden?«
»Eitel ist er bereits«, sagte Travis. »Wenn er um eine Spur eitler wird, ist er nicht mehr auszuhalten.«
Der Hund wandte sich um, sah Travis an und schnaubte laut, als wollte er sich über die Bemerkung lustigmachen.
Nora lachte. »Manchmal scheint es fast, als könnte er jedes Wort verstehen, das Sie sagen.«
»Manchmal«, pflichtete Travis ihr bei.
Als sie das Haus erreichten, wollte Nora ihn hineinbitten.
Aber sie hatte Angst, er könnte das mißverstehen. Sie wußte, sie benahm sich damit wie eine nervöse alte Jungfer, wußte, daß sie ihm vertrauen konnte - und sollte; aber plötzlich ragte Tante Violet in ihrer Erinnerung vor ihr auf, voll finsterer Warnungen in bezug auf Männer, und sie brachte es einfach nicht über sich, das zu tun, von dem sie wußte, daß es richtig war. Der Tag war perfekt gewesen, sie hatte Angst, ihn weiter auszudehnen, aus Furcht, etwas würde geschehen, das die Erinnerung beschmutzte. Also dankte sie ihm für die Einladung und wagte es nicht einmal, ihm die Hand zu reichen.
Aber sie beugte sich hinunter und drückte den Hund an sich. Einstein rieb seine Schnauze an ihrer Wange und leckte ihr einmal über den Hals, so daß sie kichern mußte. Sie hatte sich noch nie kichern hören. Sie hätte sich stundenlang an ihn drücken und ihn streicheln können, wenn das nicht ihre Scheu vor Travis noch deutlicher geoffenbart hätte.
Unter der offenen Tür stehend, blickte sie ihnen nach, wie sie in den Pick-up stiegen und wegfuhren.
Travis winkte ihr zu.
Sie winkte auch.
Dann hatte der Wagen die Ecke erreicht und begann nach rechts abzubiegen, kam außer Sicht, und Nora bedauerte ihre Feigheit, wünschte, sie hätte Travis kurz ins Haus gebeten.
Fast wäre sie ihnen nachgerannt, hätte fast seinen Namen gerufen. Aber dann war der Wagen fort, und sie war wieder allein. Zögernd ging sie ins Haus und schloß die Tür vor der helleren Welt dort draußen.
3
Der Diensthubschrauber vom Typ Bell JetRanger strich über die von Bäumen bestandenen Schluchten und kahl werdenden Kämme der Santa-Ana-Vorberge hinweg. Sein Schatten war ihm voraus, weil die Sonne im Westen stand, und der Freitagnachmittag zu verblassen begann. Als sie sich dem Holy Jim Canyon näherten, sah Lemuel Johnson zum Fenster des Passagierabteils hinaus und entdeckte vier Patrouillenwagen des Bezirkssheriffs, die sich dort unten entlang des schmalen Feldweges aufgereiht hatten. Ein paar weitere Fahrzeuge, darunter der Kombi des Leichenbeschauers und ein Jeep Cherokee, der wahrscheinlich dem Opfer gehörte, parkten neben der Steinhütte. Der Pilot hatte kaum genug Raum, um den Helikopter auf der Lichtung aufzusetzen. Noch bevor das Motorengeräusch verstummte und die von der Sonne bronzefarben getönten Rotoren sich langsamer drehten, war Lem herausgesprungen und eilte auf die Hütte zu. Cliff Soames, sein engster Mitarbeiter, folgte ihm auf den Fersen.