»Was denkst du dann, das es war?«
»Verdammt will ich sein, wenn ich das weiß«, sagte Walt und rieb sich mit einer seiner mächtigen Pranken die Stoppeln am Hinterkopf. »Aber der Leiche nach zu schließen, hatte der Killer scharfe Zähne, vielleicht Klauen, und ein recht bösartiges Naturell. Klingt das nach dem, was ihr sucht?«
Aber Lem ging ihm nicht auf den Leim.
Einen Augenblick lang sagte keiner etwas.
Eine frische, nach Pinien duftende Brise wehte durch das zersplitterte Fenster herein und blies etwas von dem üblen Gestank fort.
Einer der Laborleute sagte »Ah!« und holte mit seiner Pinzette etwas aus dem Trümmerfeld.
Lem seufzte müde. Das lief gar nicht gut. Sie würden nicht genug finden, um daraus schließen zu können, was Dalberg getötet hatte, aber sie würden genügend Beweismaterial sammeln, um höllisch neugierig zu werden. Hier aber ging es um eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit, in die seine Nase zu stecken für einen Zivilisten höchst unklug war. Lem würde ihre Ermittlungen verhindern müssen. Er hoffte, das zu schaffen, ohne Walt zu verärgern. Es würde ihre Freundschaft echt auf die Probe stellen.
Plötzlich wurde Lem, der immer noch den Sack mit der Leiche anstarrte, bewußt, daß etwas mit der Form der Leiche nicht stimmte. Er sagte: »Der Kopf ist nicht da.«
»Euch Feds entgeht aber wirklich nichts, wie?« sagte Walt. »Hat man ihn geköpft?« fragte Cliff Soames unruhig.
»Kommt mal mit«, sagte Walt und führte sie in den nächsten Raum. Es war eine große, wenn auch primitive Küche, mit einer Handpumpe am Ausguß und einem alten, mit Holz zu beheizenden Herd.
Mit Ausnahme des Kopfes gab es in der Küche keine Spuren von Gewalttätigkeit. Aber der Kopf war natürlich schlimm genug. Er lag mitten auf dem Tisch. Auf einem Teller.
»Du lieber Gott!« sagte Cliff leise.
Während sie den Raum betraten, war ein Polizeifotograf gerade damit beschäftigt, den Kopf aus verschiedenen Blickwinkeln zu fotografieren. Er war noch nicht fertig, trat aber einen Schritt zurück, damit sie besser sehen konnten.
Die Augen des Toten fehlten; man hatte sie ihm herausgerissen. Die leeren Augenhöhlen schienen tief wie Brunnen.
Cliff Soames war so weiß geworden, daß seine Sommersprossen im Kontrast dazu auf seiner Haut brannten wie Glut. Lem empfand Übelkeit, nicht nur wegen dem, was Wes Dalberg widerfahren war, sondern wegen all der Toten, die es noch geben würde. Er war stolz auf sein Können auf dem Feld polizeilicher Ermittlungsarbeit und Organisation und wußte, daß er diesen Fall besser als sonst einer bearbeiten konnte. Daneben aber war er ein erfahrener Praktiker und somit außerstande, einen Feind zu unterschätzen und daher so zu tun, als werde es für diesen Alptraum ein baldiges Ende geben. Er würde Zeit, Geduld und Glück brauchen, um den Killer aufzuspüren, und bis dahin würden sich weitere Leichen auftürmen.
Man hatte dem Toten den Kopf nicht abgeschnitten; so sauber und ordentlich war das nicht vor sich gegangen. Es hatte den Anschein, als wäre er mittels Krallen, Bissen und unter Krafteinsatz abgerissen worden.
Lem spürte plötzlich, daß seine Handflächen feucht waren. Seltsam ... wie die leeren Augenhöhlen des Kopfes ihn fixierten, als enthielten sie noch weit offene, starr blickende Augen. Ein einzelner Schweißtropfen rann ihm über den Rücken. Er hatte mehr Angst als je in seinem bisherigen Leben, mehr, als er je geglaubt hatte, haben zu können - aber wollte nicht, daß man ihn aus irgendeinem Grund von diesem Fall abzog. Es war für die Sicherheit der ganzen Nation und die Sicherheit der Öffentlichkeit von vitaler Bedeutung, daß man diesem Notfall richtig begegnete, und er wußte, daß das wahrscheinlich niemand so gut konnte wie er. Es war nicht nur sein Ego, das da aus ihm sprach. Jeder sagte, er sei der Beste, und er wußte, sie hatten recht. Sein Stolz war gerechtfertigt, falsche Bescheidenheit kannte er nicht. Das hier war sein Fall, und er wollte ihn zu Ende bringen.
Seine Eltern hatten ihm ein fast zu stark ausgeprägtes Gefühl für Pflicht und Verantwortung anerzogen. »Ein schwarzer Mann«, pflegte sein Vater zu sagen, »muß das, was man ihm aufträgt, doppelt so gut erledigen wie ein weißer, um dafür überhaupt Anerkennung zu ernten. Für Bitterkeit ist da kein Platz. Es ist auch nicht wert, dagegen zu protestieren. Es ist einfach eine der Tatsachen des Lebens. Ebensogut könnte man dagegen protestieren, daß es im Winter kalt wird. Statt zu protestieren, mußt du dich einfach den Tatsachen stellen, doppelt so hart arbeiten, dann kommst du dorthin, wo du hin möchtest. Und Erfolg mußt du haben, weil du für alle deine Brüder die Fahne trägst.« Als Folge dieser Erziehung war Lem außerstande, bei einem Auftrag weniger als den totalen, rückhaltlosen Einsatz von sich zu fordern. Er hatte panische Angst zu versagen, erlebte es kaum je, konnte aber wochenlang in tiefe Niedergeschlagenheit fallen, wenn es ihm nicht gelang, einen Fall erfolgreich abzuschließen.
»Kann ich dich draußen kurz sprechen?« sagte Walt und trat an die offene Hintertür der Hütte.
Lem nickte. Zu Cliff gewendet, sagte er: »Bleiben Sie hier. Sorgen Sie dafür, daß keiner - und das schließt Pathologen,
Fotografen, Polizisten in Uniform, eben alle, nicht aus - von hier weggeht, bevor ich Gelegenheit hatte, mit ihm zu reden.« »Ja, Sir« , sagte Cliff. Er ging rasch in den vorderen Raum, um allen mitzuteilen, daß sie für den Augenblick unter Quarantäne stünden - und um den augenlosen Kopf nicht mehr ansehen zu müssen.
Lem folgte Walt Gaines hinaus auf die Lichtung hinter der Hütte. Er entdeckte eine Tragmulde aus Metall und über den Boden verstreutes Feuerholz und blieb stehen, um diese Dinge zu besichtigen.
»Wir nehmen an, daß es hier draußen angefangen hat«, sagte Walt. »Vielleicht wollte Dalberg Holz für den Kamin holen. Vielleicht ist etwas von dort zwischen den Bäumen hervorgekommen, und er hat die Tragwanne nach ihm geworfen und ist ins Haus gerannt.«
Sie standen im blutig orangefarbenen Nachmittagslicht am Rand der Bäume und spähten in die purpurfarbenen Schatten und die geheimnisvollen grünen Tiefen des Waldes.
Lem war unruhig. Er fragte sich, ob der Flüchtling aus Weatherbys Labor vielleicht in der Nähe war und sie beobachtete.
»Also, was läuft da?« fragte Walt.
»Kann ich nicht sagen.«
»Nationale Sicherheit?«
»Stimmt genau.«
Die Föhren und Fichten und Sykomoren raschelten in der Brise, und es kam ihm vor, als bewege sich etwas verstohlen durchs Unterholz.
Fantasie natürlich. Nichtsdestoweniger war Lem froh, daß er und Walt Gaines mit verläßlichen Pistolen in leicht zugänglichen Schulterhalftern bewaffnet waren.
»Du kannst natürlich weiter den Mund halten, wenn du drauf bestehst«, meinte Walt, »aber ganz im Dunkeln kannst du mich nicht stehen lassen. Einiges kann ich mir selbst zusammenreimen. Ich bin nicht blöd.«
»Hab' ich auch nie geglaubt.«
»Am Dienstagmorgen bekommt jedes verdammte Polizeirevier in Orange und San Bernardino die dringliche Aufforderung von deiner NSA, wir sollten uns bereithalten, um an einer Suchaktion teilzunehmen, Einzelheiten würden nachfol-
gen. Was uns natürlich nervös macht. Wir wissen nämlich schon, wofür ihr Typen verantwortlich seid - für die Bewachung von Forschungsanlagen und um dafür zu sorgen, daß die Wodkapisser unsere Geheimnisse nicht klauen. Und da in Südkalifornicn die Hälfte aller Auftragnehmer des Verteidigungsministeriums ansässig sind, gibt es hier eine ganze Menge zu stehlen.«
Lem starrte immer noch in den Wald hinüber, ohne ein Wort zu sagen.
»Also«, fuhr Walt fort, »stellen wir uns vor, wir sollen nach einem russischen Agenten Ausschau halten, der irgendwas Heißes in den Taschen hat, und sind froh, wieder einmal Gelegenheit zu bekommen, für Onkel Sam ein paar Knaben in den Hintern zu treten. Aber statt daß man uns Details liefert, wird um Mittag die Aufforderung zurückgenommen. Keine Suchaktion, alles unter Kontrolle, heißt es aus eurem Büro. Der Alarm sei irrtümlich gegeben worden, sagt ihr.«