Walt rieb sich mit einer Hand seinen Stiernacken und sagte: »Es hat also überhaupt nichts mit Banodyne zu tun?«
»Gar nichts. Es ist reiner Zufall, daß Weatherby und Yarbeck beide dort arbeiteten - und daß Hudston früher einmal dort gearbeitet hat. Wenn du unbedingt eine Verbindung zwischen diesen Fällen herstellen willst, vergeudest du nur deine Energien - und mir soll's recht sein.«
Die Sonne versank und schien dabei eine Tür aufgestoßen zu haben, durch die eine viel kühlere, schärfere Brise in die dunkler werdende Welt wehte.
Walt, der sich immer noch den Nacken rieb, sagte: »Also nicht Banodyne, hm?« Er seufzte. »Ich kenn' dich zu gut, Kumpel. Dein Pflichtgefühl ist so ausgeprägt, daß du deine eigene Mutter belügen würdest, wenn das im Interesse unseres Landes wäre.«
Lem sagte nichts.
»Also gut«, sagte Walt. »Ich lass' es. Ab jetzt gehört der Fall dir. Es sei denn, weitere Leute in meinem Zuständigkeitsbereich werden umgebracht. Wenn das passiert... nun, dann könnte ich vielleicht versuchen, wieder einzugreifen. Kann dir nicht versprechen, daß ich das nicht tun werde. Ich habe auch mein Pflichtgefühl, weißt du?«
»Ich weiß«, sagte Lem und kam sich wie ein Schwein vor. Dann strebten sie beide der Hütte zu.
Der Himmel - im Osten dunkel, im Westen noch immer von orangefarbenen, roten und purpurfarbenen Lichtzungen durchsetzt - schien sich wie der Deckel einer Schachtel herabzusenken.
Kojoten heulten.
Etwas im nächtlichen Wald erwiderte ihren Ruf.
Ein Puma, dachte Lem, wußte aber, daß er sich damit jetzt selbst belog.
4
Am Sonntag, zwei Tage nach dem so angenehm verlaufenen Mittagessen, fuhren Travis und Nora nach Solvang, einem Dorf im Santa-Ynez-Tal mit Häusern im dänischen Stil. Es handelte sich um eine Touristenattraktion mit Hunderten von Geschäften, in denen es alles zu kaufen gab, angefangen vom exquisiten skandinavischen Kristall bis zu Plastikimitationen dänischer Bierkrüge. Die malerische - wenn auch auf Wirkung bedachte - Architektur und die von Bäumen gesäumten Straßen steigerten noch die simplen Freuden eines Schaufensterbummels.
Travis verspürte einige Male den Drang, nach Noras Hand zu greifen und sie festzuhalten, während sie dahinschlenderten. Es schien ihm natürlich und richtig so. Und dennoch hatte er das Gefühl, sie selbst könnte für einen so harmlosen Kontakt wie das Halten ihrer Hand noch nicht bereit sein.
Sie trug ein anderes fades Kleid, diesmal in stumpfem Blau und nahezu sackförmig. Praktische Schuhe. Ihr dichtes Haar hing immer noch schlaff und ohne Frisur herab, ganz wie beim erstenmal.
Mit ihr zusammenzusein war ein reines Vergnügen. Sie hatte eine reizende Art, war stets empfindsam und liebenswürdig. Ihre Unschuld war herzerfrischend. Ihre Scheu und ihre Bescheidenheit, obwohl sie sie übertrieb, machten sie nur noch sympathischer. Sie betrachtete alles mit großäugigem Staunen, was bezaubernd aussah, und es machte ihm riesigen Spaß, sie mit einfachen Dingen zu überraschen: einem Laden, in dem nur Kuckucksuhren verkauft wurden; einem anderen, in dem es nur ausgestopfte Tiere gab; einer Musikbox mit einer Tür aus Perlmutt, die sich öffnete und den Blick auf eine Pirouetten drehende Ballerina freigab.
Er kaufte ihr ein T-Shirt mit einem eigens für sie ausgedachten Aufdruck, den sie erst sehen durfte, als er fertig war: NORA LOVES EINSTEIN. Obwohl sie behauptete, sie würde nie ein T-Shirt tragen, es sei nicht ihr Stil, wußte Travis, daß sie es tragen würde, weil sie den Hund wirklich liebte.
Einstein konnte den Aufdruck auf dem Hemd nicht lesen, schien aber zu verstehen, was er bedeutete. Als sie aus dem
Geschäft kamen und seine Leine von der Parkuhr lösten, wo sie ihn angebunden hatten, betrachtete Einstein den Aufdruck des Hemdes ernst, während Nora es ihm hinhielt, damit er es inspizieren konnte. Dann leckte er ihr glücklich die Hände und schmiegte sich an sie.
Einen einzigen schlimmen Augenblick gab es an diesem Tag. Als sie um eine Ecke bogen und sich einem weiteren Schaufenster näherten, blieb Nora plötzlich stehen und sah sich um, musterte die Menschenmassen auf den Bürgersteigen - Leute, die Eiskrem aus großen Waffeltüten aßen; Leute, die in Wachspapier gewickelte Apfeltorten verzehrten; junge Männer in mit Federn verzierten Cowboyhüten, die sie in einem der Geschäfte gekauft hatten; hübsche junge Mädchen in Minishorts und BH; eine sehr fette Frau in einem weiten gelben hawaiischen Muumuu; Leute, die Englisch, Spanisch, Japanisch, Vietnamesisch und all die anderen Sprachen sprachen, die man in jedem Touristenort Südkaliforniens hören konnte. Dann fiel ihr Blick auf einen Andenkenladen, der die Form einer dreistöckigen Windmühle mit Fachwerkfassade hatte, und sie erstarrte plötzlich, hatte Angst. Travis mußte sie zu einer Bank in einem kleinen Park führen, wo sie sich hinsetzte und ein paar Minuten sitzenblieb, bis sie sagen konnte, was nicht stimmte.
»Überladen«, sagte sie schließlich mit zitternder Stimme.
»So viel... Neues ... neue Geräusche ... soviel Verschiedenes auf einmal. Es tut mir leid.«
»Ist schon gut«, sagte er, irgendwie gerührt.
»Ich bin ein paar Zimmer gewöhnt, an Dinge, die ich kenne. Starren die Leute uns an?«
»Niemand hat etwas bemerkt. Es gibt nichts anzustarren.«
Sie saß mit krummem Rücken da, den Kopf gesenkt, die Hände lagen zu Fäusten geballt in ihrem Schoß. Bis Einstein den Kopf auf ihre Knie legte. Während sie den Hund hinter den Ohren kraulte, begann sie sich langsam zu entspannen.
»Es hat mir wirklich gefallen«, sagte sie zu Travis, ohne dabei den Kopf zu heben, »wirklich sehr, und ich mußte immer denken, wie weit weg von zu Hause ich doch war, wie wunderbar weit weg von zu Hause ... «
»Nicht wirklich. Weniger als eine Stunde Fahrt«, beruhigte er sie.
»Sehr, sehr weit«, sagte sie.
Für sie war das wohl tatsächlich eine große Entfernung, vermutete Travis.
Sie fuhr fort: »Und als mir klarwurde, wie weit weg von zu Hause ich war und wie ... wie anders alles war ... da krampfte sich alles in mir zusammen, und ich hatte Angst wie ein Kind.«
»Möchten Sie jetzt nach Santa Barbara zurückfahren?«
»Nein!« sagte sie und sah ihm endlich in die Augen. Sie schüttelte den Kopf. Sie wagte es, um sich zu blicken, die Leute zu betrachten, die durch den kleinen Park schlenderten, und den Andenkenladen, der wie eine Windmühle aussah. »Nein. Ich möchte noch eine Weile bleiben. Den ganzen Tag. Ich möchte in einem Restaurant hier zu Abend essen, nicht in einem Straßencafe, sondern im Lokal, wie die anderen Leute es tun. Und möchte nach Hause, wenn es dunkel geworden ist.
Sie blinzelte und wiederholte verwundert die letzten Worte. »Wenn es dunkel geworden ist.«
»Einverstanden.«
»Außer natürlich. Sie hatten vorgehabt; früher heimzukommen.«
»Nein, nein«, sagte er. »Ich hatte vor, den ganzen Tag mit ihnen zu verbringen.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen.«
Travis hob eine Braue. »Was meinen Sie damit?«
»Das wissen Sie.«
»Ich fürchte nein.«
»Daß Sie mir helfen, in die Welt hinauszutreten«, sagte sie. »Daß Sie Ihre Zeit opfern, um jemandem ... wie mir zu helfen. Das ist sehr großzügig von Ihnen.«
Er war verblüfft. »Nora, lassen Sie mich Ihnen versichern, daß ich hier nicht als Wohltäter fungiere.«
»Ein Mann wie Sie hat aber an einem Sonntagnachmittag im Mai ganz sicher Besseres zu tun.«
»O ja«, sagte er im Selbstspott. »Ich hätte zu Hause bleiben und meine sämtlichen Schuhe gründlich eincremen und dann polieren können. Ich hätte auch die Makkaroni in der Schachtel zählen können.«
Sie starrte ihn ungläubig an.