Sie war jetzt knallrot und schien außerstande, Travis anzusehen. Auch ihm war das Ganze peinlich.
Endlich schien Einstein zufrieden, seine Absicht klargemacht zu haben, und benahm sich wieder anständig. Bis zu dieser Stunde hätte Travis jedem gegenüber auf dessen entsprechende Frage behauptet, ein Hund könne nicht blasiert dreinsehen.
Später, als es Zeit wurde, essen zu gehen, war es immer noch angenehm warm, und Nora änderte ihre Absicht, das Essen in einem gewöhnlichen Restaurant im Inneren einzunehmen. Sie wählte ein Lokal mit Tischen im Freien unter roten
Schirmen, die unter den schützenden Ästen einer riesigen Eiche standen. Travis hatte aber das Gefühl, daß sie sich nicht davor fürchtete, in einem richtigen Restaurant zu sitzen, sondern daß sie im Freien essen wollte, damit sie Einstein bei sich behalten konnten. Mehrere Male während des Essens schaute sie Einstein an, musterte ihn manchmal verstohlen, dann wiederum unverhohlen und mit gespannter Aufmerksamkeit.
Travis ging auf das, was geschehen war, nicht ein und tat so, als hätte er die ganze Angelegenheit vergessen. Aber als dann der Hund ihm die Aufmerksamkeit zuwandte und Nora gerade nicht herschaute, formte sein Mund drohende Worte: Keine Apfeltörtchen mehr. Würgehalsband. Maulkorb. Auf dem schnellsten Weg ins Hundeasyl.
Einstein nahm jede Drohung mit großem Gleichmut hin, grinste entweder oder gähnte oder blies schnaubend die Luft durch die Nasenlöcher.
5
Am frühen Sonntagabend besuchte Vince Nasco Johnny Santi-ni, genannt >der Draht<. Johnny wurde aus mehreren Gründen >der Draht< genannt, nicht zuletzt deshalb, weil er groß, schlank und drahtig war und aussah, als bestünde er aus verknoteten Drähten verschiedener Dicke. Außerdem hatte er gekräuseltes Haar in der Farbe von Kupfer. Johnny war schon im zarten Alter von fünfzehn Jahren zu Ansehen gelangt: Er hatte es damals, um seinem Onkel Religio Fustino, dem Don einer der fünf Familien New Yorks, gefällig zu sein, auf sich genommen, einen auf eigene Rechnung arbeitenden Shit-und-Coke-Dealer zu strangulieren, der in der Bronx ohne Erlaubnis der Familie tätig war. Johnny benützte für den Job eine Klaviersaite. Dieser Beweis seiner Eigeninitiative und seiner Achtung der Prinzipien der Familie hatte Don Religio mit Stolz und Zuneigung erfüllt, er hatte geweint - zum zweiten Mal in seinem Leben -, seinen Neffen des ewigen Respekts der Familie versichert und ihm eine gutbezahlte Position im Geschäft versprochen.
Jetzt war Johnny >der Draht< fünfunddreißig und wohnte in einem Strandhaus in San Clemente, das eine Million Dollar gekostet hatte. Die zehn Zimmer und vier Bäder waren von einem Innenarchitekten gestaltet worden, dessen Auftrag gelautet hatte, inmitten unserer modernen Welt im authentischen -und teuren - Art-deco-Stil einen Zufluchtsort zu schaffen.
Alles war in Schwarz, Silber und Dunkelblau gehalten, mit Andeutungen von Türkis und Pfirsich. Johnny hatte Vince gegenüber geäußert, Art deco gefalle ihm, weil ihn diese Richtung an die Roaring Twenties erinnere. Er liebte die zwanziger Jahre, denn das war die romantische Epoche der legendären Gangsterbosse gewesen.
Für Johnny den Draht war Verbrechen nicht nur ein Mittel, Geld zu machen, nicht nur einfach eine Möglichkeit, sich gegen die Einengungen der zivilisierten Gesellschaft aufzulehnen, auch nicht bloß ein ererbter Trieb, für ihn war es auch -und zwar in erster Linie - eine großartige romantische Tradition. Er sah sich als Bruder aller Augenklappen tragenden ha-kenarmigen Piraten, die je auf der Suche nach Raubgut die Segel gesetzt hatten, aller Straßenräuber, die je eine Postkutsche ausgeraubt hatten, und der Gesamtheit von Safeknackern, Kidnappern und Erpressern seit den Zeiten, da es Verbrechen als Profession gab. Er war, darauf bestand er, auf mystische Weise mit Jesse James, Dillinger, AI Capone, den Dalton-Boys, Lucky Luciano und Legionen anderer verwandt, und Johnny liebte sie alle, diese legendären Brüder in Diebstahl und Blutvergießen.
Als er Vince die Eingangstür aufmachte, sagte er: »Komm rein, komm rein. Großer. Schön, dich wiederzusehen.«
Sie umarmten einander. Vince mochte Umarmungen nicht, aber er hatte für Johnnys Onkel Religio gearbeitet, als er noch in New York lebte, und bisweilen war er hier an der Westküste noch für die Fustino-Familie tätig, also kannten er und Johnny einander schon lange, lange genug, um eine Umarmung zu rechtfertigen.
»Du siehst gut aus«, sagte Johnny. »Paßt auf dich auf, wie ich sehe. Bist du immer noch boshaft wie eine Schlange?«
»Wie eine Klapperschlange«, sagte Vince, dem es allmählich peinlich war, solchen Schwachsinn von sich zu geben, aber er wußte, Johnny hatte es gern, wenn man mit dieser Art Gangstergequassel um sich warf.
»Hab' dich schon so lange nicht mehr gesehen. Dachte schon, die Bullen hätten dir vielleicht den Arsch aufgerissen.« »Ich sitze nie«, sagte Vince und meinte damit, für ihn stehe fest, daß das Gefängnis nicht zu den Dingen gehöre, die die Vorsehung für ihn ausersehen habe.
Johnny legte es so aus, daß Vince lieber schießend zu Boden gehen würde, als sich dem Gesetz zu ergeben, und daraufhin runzelte er die Stirn und nickte zustimmend. »Wenn sie dich je in die Ecke treiben, bläst du so viele von ihnen weg, wie du kannst, ehe sie dich erledigen. Die einzig saubere Art, zu Boden zu gehen.«
Johnny der Draht war ein erstaunlich häßlicher Mann, was wahrscheinlich sein Bedürfnis erklärlich machte, sich als Teil einer großen romantischen Tradition zu fühlen. Im Laufe der Jahre hatte Vince erkannt, daß die gutaussehenden Gangster nie herausstrichen, was sie taten. Sie töteten kaltblütig, weil Töten ihnen Freude bereitete oder weil sie es für nötig fanden, und sie stahlen, erpreßten und unterschlugen, weil sie auf bequeme Art zu Geld kommen wollten, punktum: keine Rechtfertigungen, keine Selbstbeweihräucherung, und so sollte es auch sein. Aber Leute mit Betongesichtern, die aussahen wie Quasimodo; wenn er seinen schlechten Tag hatte - nun, viele von diesen versuchten ihr unglückseliges Aussehen dadurch zu kompensieren, daß sie sich gaben wie Jimmy Cagney im Film >Public Enemy<.
Johnny trug einen schwarzen Jumpsuit und schwarze Turnschuhe. Er trug immer Schwarz, wahrscheinlich weil er dachte, er sehe damit bedrohlich aus und nicht einfach nur häßlich. Aus dem Vorraum folgte Vince Johnny ins Wohnzimmer, wo schwarze Polstergarnituren mit glänzendschwarz lackierten Sofatischen standen. Da waren Ormolu-Tischlampen von Ranc zu sehen, große, silberbestäubte Deco-Vasen von Daum, ein Paar alte Stühle von Jacques Ruhlmann. Vince kannte die Geschichte dieser Gegenstände nur deshalb, weil Johnny der Draht bei früheren Besuchen kurz aus seiner Rolle des harten Burschen herausgetreten war und über seine Schätze geplaudert hatte.
Eine gutaussehende Blondine lag hingestreckt auf einer schwarzsilbernen Chaiselongue und las eine Zeitschrift. Sie war höchstens zwanzig, aber in beinahe peinlicher Weise überreif. Ihr silberblondes Haar war kurzgeschnitten, ein Bubikopf. Sie trug einen roten Hosenanzug aus chinesischer Seide, der an den Konturen ihrer vollen Brüste klebte, und als sie aufblickte und Vince schmollend ansah, schien das ein Versuch, wie Jean Harlow auszusehen.
»Das ist Samantha«, sagte Johnny der Draht. Zu Samantha gewandt, meinte er: »Süße, das hier ist ein gemachter Mann, mit dem nicht gut Kirschen essen ist, und schon zu Lebzeiten eine Legende.«
Vince kam sich wie ein Esel vor.
»Was ist ein >gemachter Mann<?« fragte die Blondine mit hoher Stimme, womit sie den ohne Zweifel einstigen Filmstar Judy Holiday nachmachte.
Johnny trat neben die Chaiselongue, umschloß mit der Hand eine Brust der Blondine und drückte sie kosend durch den Seidenpyjama hindurch. Dann meinte er: »Sie versteht die Sprache nicht, Vince, sie gehört nicht zur Fratellanza. Sie ist ein Mädchen aus dem Tal, kennt das Leben nicht und kennt nicht unsere Sitten.«