Выбрать главу

Die Fantasie ging der Dreizehnjährigen oft durch. Wenn sie im dunklen Zimmer im Bett lag, brauchte sie nicht einmal die Augen zu schließen, um sich im Sattel sitzen zu sehen, auf Goodheart, ihrem kastanienbraunen Hengst, über die Rennbahn donnernd, den anderen Pferden im Feld weit voraus, die Ziellinie nicht einmal mehr hundert Meter vor sich, und die begeisterte Menge jubelte ihr wie wild von den Tribünen zu ... Auf der Schule bekam sie gewohnheitsmäßig gute Noten, nicht weil sie eine besonders fleißige Schülerin war, sondern weil das Lernen ihr leichtfiel und sie ohne viel Mühe gut vorankam. Die Schule bedeutete ihr nicht sehr viel. Sie war schlank und blond, mit Augen, genau im Farbton eines klaren Sommerhimmels, und sehr hübsch. Die Jungs fühlten sich zu ihr hingezogen. Aber sie verbrachte ebensowenig Zeit mit Gedanken über Jungs wie damit, sich mit ihren Schulaufgaben zu befassen. Vorläufig zumindest. Dabei waren ihre Freundinnen auf Jungs geradezu fixiert, derart besessen von dem Thema, daß Tracy es zu Tode langweilig fand.

Was Tracy interessierte - leidenschaftlich, tief und heftig -das waren Pferde, Vollblutrennpferde. Seit ihrem fünften Lebensjahr sammelte sie Bilder von Pferden, seit dem siebten Lebensjahr nahm sie Reitstunden, obwohl ihre Eltern es sich die längste Zeit nicht hatten leisten können, ihr ein Pferd zu kaufen. Aber in den letzten zwei Jahren florierte das Geschäft ihres Vaters, vor zwei Monaten waren sie nach Orange Park Acres in ein großes neues Haus mit einem achttausend Quadratmeter großen Grundstück gezogen, und Orange Park Acres war Pferdeland mit einer Menge Reitwegen. Am hinteren Ende ihres Besitzes gab es einen Privatstall für sechs Pferde, wenn auch nur eine der Boxen besetzt war. Und genau heute, am Dienstag, dem 25. Mai, einem Tag der Freude, einem Tag, der ewig in Tracy Keeshans Herzen leben würde, einem Tag, der einfach der Beweis dafür war, daß es einen Gott gab, hatte sie ihr eigenes Pferd bekommen, den unvergleichlichen, großartigen, wunderschönen Goodheart.

Deshalb konnte sie nicht schlafen. Sie war um zehn zu Bett gegangen, jetzt war Mitternacht, und sie war wacher denn je.

Um ein Uhr früh konnte sie es nicht länger ertragen. Sie mußte hinaus zum Stall und Goodheart ansehen. Sich vergewissern, daß bei ihm alles in Ordnung war und er sich in seinem neuen Heim wohl fühlte. Sich vergewissern, daß er Wirklichkeit war.

Sie warf das Laken und die dünne Decke von sich und stieg leise aus dem Bett. Sie trug ein Höschen und ein T-Shirt mit dem Aufdruck >Santa Anita Racetrack<, schlüpfte bloß in ihre Jeans und in blaue Nike-Laufschuhe.

Langsam drehte sie den Türknopf, völlig lautlos, ging in den Korridor hinaus, ließ die Tür offenstehen.

Im Haus war es dunkel und still. Ihre Eltern und ihr neunjähriger Bruder Bobby schliefen.

Tracy ging durch den Flur, passierte Wohnzimmer und Speisezimmer, ohne das Licht einzuschalten. Sie fand sich im Mondlicht zurecht, das durch die großen Fenster fiel.

In der Küche machte sie lautlos die Schublade des Sekretärs auf, der in der Ecke stand, und nahm eine Taschenlampe heraus. Sie sperrte die Hintertür auf und trat auf die hintere Terrasse, zog klammleise die Tür hinter sich zu, immer noch, ohne die Taschenlampe anzuknipsen.

Die Frühlingsnacht war kühl, aber nicht kalt. Ein paar große Wolken, oben silbrig vom Mondlicht, unten mit dunklen Bäuchen, glitten wie Galeoncn mit weißen Segeln durch das Meer der Nacht. Tracy starrte eine Weile zu ihnen empor und genoß den Augenblick. Sie wollte jeden einzelnen dieser ganz besonderen Augenblicke in sich aufnehmen und ihre Vorfreude wachsen lassen. Schließlich, dies würde das erste Mal sein, daß sie mit dem stolzen, edlen Goodheart allein war. Nur sie beide würden ihre Zukunftsträume miteinander teilen.

Sie ging über die Terrasse, umschritt den Swimming-pool, wo der Widerschein des Mondes sich im Chlorwasser kräuselnd bewegte, und trat auf den leicht abschüssigen Rasen.

Das taufeuchte Gras schimmerte im sanften Mondlicht.

Links und rechts grenzte ein weißer Ranchzaun, der phosphoreszierendes Licht auszusenden schien, das Grundstück von den Nachbargrundstücken ab, die alle mindestens viertausend Quadratmeter groß waren, manche auch so groß wie das Keeshan-Anwesen. Überall rundum herrschte Stille, von ein paar Grillen und Fröschen abgesehen.

Tracy ging langsam auf die Stallungen am Ende des Grundstücks zu und dachte an die Triumphe, die ihr und Goodheart bevorstanden. Er würde in keine Rennen mehr gehen. Er war in Santa Anita, Del Mar, Hollywood Park und auf anderen Rennplätzen in Kalifornien in die Gewinnränge gelaufen. Aber dann hatte er sich eine Verletzung zugezogen, und ein Rennen war für ihn nicht mehr ungefährlich. Aber als Deckhengst konnte er noch eingesetzt werden, und Tracy zweifelte nicht daran, daß er Sieger zeugen würde. Im Laufe der nächsten Woche hofften sie, ihrem Bestand zwei gute Mähren zufügen zu können, und dann wollten sie die Pferde sofort auf eine Zuchtfarm bringen, wo Goodheart die Mähren decken würde. Dann kämen alle drei hierher zurück, und Tracy würde für sie sorgen. Im nächsten Jahr würden zwei gesunde Fohlen zur Welt kommen, und die Fohlen würden sie in der Nähe bei einem Trainer unterbringen, so daß Tracy sie dauernd besuchen konnte. Sie würde beim Training mithelfen, alles lernen, was es über die Aufzucht eines Champions zu lernen gab, und dann - ja, dann - würden sie und die Nachkommen Good-hearts Renngeschichte machen. 0 ja, sie war ganz sicher, daß sie Renngeschichte machen würden.

Sie wurde aus ihren Fantasien gerissen, als sie etwa zwölf Meter vor den Stallungen in etwas Weiches, Schlüpfriges trat und fast hinfiel. Es roch nicht nach Pferdekot, aber es mußte ein Haufen sein, den Goodheart hierher gesetzt hatte, als sie ihn gestern abend herausholte. Sie kam sich dumm und ungeschickt vor. Sie knipste die Taschenlampe an, richtete den Lichtstrahl auf den Boden und entdeckte statt Pferdekot die Überreste einer total verstümmelten Katze.

Tracy ließ vor Ekel zischend die Luft zwischen den Zähnen entweichen und schaltete sofort die Taschenlampe wieder aus. In der Nachbarschaft wimmelt es von Katzen, vor allem weil sie nützlich waren, die Mäusebevölkerung rings um die Stallungen in Grenzen zu halten. Von den Hügeln und Canyons im Osten kamen regelmäßig Kojoten auf der Suche nach Beute herein. Obwohl Katzen schnell waren, waren Kojoten manchmal schneller. Also war Tracys erster Gedanke, ein Kojote habe sich unter dem Zaun durchgegraben oder sei über ihn gesprungen und habe diese unglückliche Katze erwischt, die vermutlich auf der Jagd nach Nagern gewesen war,

Aber ein Kojote hätte die Katze sofort verzehrt und nicht viel mehr als ein Stück vom Schweif und ein oder zwei Fetzen Fell hinterlassen, denn Kojoten waren mehr Gourmands als Gourmets und hatten einen mörderischen Appetit. Oder er hätte die Katze weggeschleppt, um sie anderswo in Muße zu verspeisen. Diese Katze hingegen war nicht einmal zur Hälfte aufgefressen, nur in Stücke gerissen, so als hätte sie etwas oder jemand nur aus dem krankhaften Vergnügen heraus getötet, sie entzweizureißen ...

Tracy schauderte.

Und erinnerte sich an die Gerüchte, die über den Zoo im Umlauf waren.

In dem kleinen Tierpark von Irvine Park, nur ein paar Kilometer entfernt von hier, hatte jemand allem Anschein nach vor zwei Tagen ein paar Käfigtiere getötet. Vandalen im Drogenrausch. Vertierte Menschen, die um des Nervenkitzels wegen getötet hatten. Die Geschichte war nur ein heißes Gerücht, niemand konnte sie bestätigen. Aber es gab Hinweise, daß sie der Wahrheit entsprach. Ein paar Kinder waren gestern nach der Schule mit den Rädern zum Park gefahren, hatten dort zwar keine verstümmelten Kadaver gesehen, aber sie berichteten, daß allem Anschein nach weniger Tiere als gewöhnlich in den Gehegen wären, und das Shetlandpony sei eindeutig nicht mehr dasselbe. Die Tierwärter waren nicht besonders mitteilsam gewesen.