Die Tür öffnete sich ein paar Zentimeter weit.
Sie stieß einen Schrei aus und zog sie wieder zu.
Im gleichen Augenblick riß der Angreifer sie wieder ein Stück auf, hielt sie fest, zerrte wild, sie weiter aufzuziehen, während sie alle Kraft einsetzte, sie wieder zu schließen. Doch sie war eindeutig dabei, diesen Kampf zu verlieren. Zentimeter um Zentimeter öffnete sich die Tür weiter. Jetzt sah sie schattenhaft die Umrisse des unförmigen Gesichts. Die spitzen Zähne schimmerten stumpf. Die bernsteinfarbenen Augen waren jetzt nur schwach sichtbar. Die Bestie zischte, knurrte, ihr fauliger Atem übertönte den Strohgeruch.
Vor Angst und Verzweiflung wimmernd, zog Tracy mit aller Kraft an der Tür.
Aber sie öffnete sich ein Stück weiter.
Und noch weiter.
Im wilden Hämmern ihres Herzschlags klang die Detonation des ersten Schusses nur gedämpft. Sie war nicht sicher, was sie gehört hatte, bis ein zweiter Schuß durch die Nacht dröhnte. Jetzt war ihr klar, daß ihr Vater sich beim Verlassen des Hauses seine Waffe gegriffen hatte.
Die Boxentür schlug knallend gegen den Rahmen, als der Angreifer, von dem Schuß erschreckt, losließ. Tracy hielt weiter fest.
Dann fiel ihr ein, daß Daddy bei all dem Durcheinander glauben könnte, Goodheart habe die Schuld, das arme Pferd habe durchgedreht oder so etwas. Aus dem Inneren der Box schrie sie: »Schieß nicht auf Goodheart! Schieß nicht auf das Pferd!«
Aber es waren keine weiteren Schüsse zu hören, und Tracy kam sich im gleichen Augenblick töricht vor, zu glauben, ihr Vater würde Goodheart niederschießen. Daddy war ein vorsichtiger Mann, besonders was geladene Waffen betraf, und solange er nicht genau wußte, was vor sich ging, würde er nur Warnschüsse abgeben. Höchstwahrscheinlich hatte er lediglich ein paar Büsche in Fetzen geschossen.
Goodheart war vermutlich in Ordnung, der bernsteinäugige Angreifer sicher bereits in Richtung auf die Vorberge oder die Canyons unterwegs - oder jedenfalls dorthin, woher er gekommen war.
(Aber was war dieses verrückte, verdammte Ding?)
Und dieses Martyrium war vorüber, dem Himmel sei Dank.
Sie hörte jemanden im Laufschritt näher kommen, dann rief ihr Vater ihren Namen.
Sie stieß die Boxentür auf und sah, wie Daddy, in blauen Pyjamahosen, barfuß und mit der Schrotflinte unterm Arm, hereingerannt kam. Mom war auch da, im kurzen gelben Nachthemd war sie mit einer Taschenlampe dicht hinter Daddy.
Und ein Stück weiter oben auf dem leicht abschüssigen Grundstück stand Goodheart, Erzeuger künftiger Champions, hatte sich beruhigt und war unverletzt.
Tränen der Erleichterung quollen aus Tracys Augen, als sie den unversehrten Hengst sah, sie taumelte aus der Box, wollte ihn sich genauer ansehen. Aber beim zweiten oder dritten Schritt spürte sie einen brennenden Schmerz in ihrer rechten Körperseite, plötzlich erfaßte sie Schwindel, sie taumelte, stürzte, griff sich mit der Hand an die Seite, spürte etwas Feuchtes und bemerkte erst jetzt, daß sie blutete. Sie erinnerte sich an die Klauen, die sich in sie gebohrt hatten, ehe Goodheart aus seiner Box schoß und damit den Angreifer verscheuchte, und hörte sich wie aus weiter Ferne sagen: »Braves Pferd ... was für ein braves Pferd ...«
Daddy kniete neben ihr nieder. »Baby, was, zum Teufel, ist passiert, was ist denn los?«
Jetzt war auch ihre Mutter da.
Daddy sah das Blut. »Ruf eine Ambulanz!«
Ihre Mutter, in Augenblicken der Gefahr weder zu Hysterie noch zu Zaghaftigkeit neigend, machte sofort kehrt und rannte zum Haus zurück.
Tracys Benommenheit wuchs. Aus dem Rand ihres Sichtfeldes kroch eine Dunkelheit heran, die nicht Teil der Nacht war. Sie hatte keine Angst davor; sie erschien ihr wie eine heilende, willkommene Dunkelheit.
»Baby«, sagte ihr Vater und legte eine Hand auf ihre Wunden.
Ganz schwach, wohl bewußt, daß sie sich in einer Art Dämmerzustand befand, und neugierig, was sie sagen würde, sagte sie: »Erinnerst du dich, als ich ganz klein war... ein kleines Mädchen... und immer dachte, irgendein schreckliches Ding ... würde in meinem Schrank liegen ... nachts?«
Er runzelte besorgt die Stirn. »Honey, vielleicht ist es besser, wenn du jetzt ruhig bist, ganz ruhig.«
Und während sie die Besinnung verlor, hörte Tracy sich sagen, und zwar mit einer Ernsthaftigkeit, die sie gleichzeitig amüsierte und ängstigte: »Nun ... ich glaube, vielleicht war es der Butzemann, der damals in dem anderen Haus im Kleiderschrank lebte. Ich glaube ... er war vielleicht doch echt... und ist jetzt zurückgekommen.«
9
Am Mittwoch früh um vier uhr zwanzig, nur Stunden nach dem Angriff auf das Haus der Keeshans, traf Lemuel Johnson in Tracy Keeshans Krankenhauszirnmer im St.-Josephs-Hospi-tal in Santa Ana ein. Aber sosehr er sich auch beeilt hatte, Sheriff Walt Gaines war ihm zuvorgekommen. Walt stand im Korridor, den jungen Arzt vor ihm im grünen Chirurgenschurz über dem weißen Labormantel hoch überragend. Sie schienen miteinander leise zu debattieren.
Das Banodyne-Krisenteam der NSA überwachte alle Polizeistationen im Bezirk, darunter auch das Revier in Orange, in dessen Zuständigkeit das Haus der Keeshans fiel. Der Nachtschichtleiter des Teams hatte Lem zu Hause angerufen und ihn
über den Fall unterrichtet, der genau in das Schema jener Art von Zwischenfällen paßte, das auf einen Zusammenhang mit Banodyne hindeutete.
»Du hast deine Zuständigkeit abgegeben«, erinnerte Lem Walt etwas spitz, als er vor der verschlossenen Tür des Krankenzimmers zu dem Sheriff und dem Arzt hintrat.
»Vielleicht gehört das hier gar nicht zu demselben Fall.«
»Du weißt genau, daß das nicht so ist.«
»Nun, es ist jedenfalls noch nicht entschieden.«
»Das hat sich entschieden - schon am Ort des Überfalls, wo ich mit deinen Männern sprach.«
»Okay, dann sagen wir einfach, daß ich als Beobachter hier bin.«
Fast hätte Lem losgelacht. Er mochte diesen Burschen wirklich, aber er wußte, wenn er lachte, würde Walt dieses Lachen trotz ihrer Freundschaft als Keil benutzen, sich wieder in den Fall hineinzudrängen. Also behielt Lem sein Pokergesicht bei, obwohl Walt ganz offensichtlich wußte, daß Lem zum Lachen zumute war. Ihr Spiel war lächerlich, aber es mußte gespielt werden.
Der Arzt, Roger Selbok, erinnerte im Aussehen an den jungen Rod Steiger. Jetzt runzelte er die Stirn, weil ihre Stimmen lauter wurden, und er hatte etwas von der beeindruckenden Persönlichkeit Steigers an sich, denn sein Stirnrunzeln reichte aus, um ihre Lautstärke zu dämpfen.
Selbok sagte, man habe das Mädchen untersucht, ihre Wunden behandelt und ihr ein schmerzstillendes Mittel verabreicht. Sie sei müde. Er wäre gerade im Begriff, ihr ein Sedativum zu verabreichen, um sicherzustellen, daß sie ruhig schlafen könne, und sei nicht der Ansicht, daß es jetzt eine besonders gute Idee wäre, wenn Polizisten, welchen Zuständigkeitsbereichs auch immer, ihr in diesem Augenblick Fragen stellten. Das Flüstern, die morgendliche Stille des Krankenhauses, der Geruch von Desinfektionsmitteln, der den Korridor erfüllte, der Anblick einer weißgewandeten Nonne, die an ihnen vorbei schwebte, reichten, um Lem zu beunruhigen. Plötzlich hatte er Angst, das Mädchen befände sich in viel schlimmeren Zustand, als man ihm gesagt hatte, und diese Besorgnis teilte er Selbok mit.
»Nein, nein, ihr Zustand ist recht gut«, sagte der Arzt. »Ich habe ihre Eltern nach Hause geschickt, und das würde ich bestimmt nicht getan haben, wenn es irgendeinen Anlaß zur Besorgnis gäbe. Ihre linke Gesichtsseite ist aufgeschürft, sie hat ein blaues Auge, aber das ist nicht ernst. Die Wunden an ihrer rechten Seite mußten genäht werden, zweiunddreißig Stiche, also müssen wir entsprechende Vorkehrungen treffen, damit es keine häßliche Narbenbildung gibt. Aber sie ist außer Gefahr. Sie hat einen bösen Schrecken abgekriegt. Aber sie ist ein intelligentes junges Mädchen und steht mit beiden Beinen auf der Erde, also glaube ich nicht, daß sie ein längerdauerndes psychisches Trauma davontragen wird. Trotzdem glaube ich nicht, daß es eine gute Idee wäre, sie jetzt noch einem Verhör auszusetzen.«