»Kein Verhör«, sagte Lem. »Nur ein paar Fragen.«
»Fünf Minuten«, sagte Walt.
»Weniger«, sagte Lem.
Sie ließen nicht locker und schafften es schließlich, Selbok zu überreden. »Nun ... Sie müssen schließlich auch Ihre Arbeit tun, und wenn Sie mir versprechen, sie nicht zu sehr zu bedrängen ... «
»Ich werde sie so anfassen, als bestünde sie aus Seifenblasen«, sagte Lem.
»Wir werden sie anfassen, als bestünde sie aus Seifenblasen«, korrigierte Walt.
Selbok sah die beiden an. »Sagen Sie mir nur eines ... was zum Teufel ist ihr denn passiert?«
»Hat sie es Ihnen nicht selbst gesagt?« fragte Lem.
»Nun, sie spricht davon, ein Kojote hätte sie angegriffen ... « Lem war überrascht, und er sah, daß auch Walt verblüfft war. Vielleicht hatte der Fall gar nichts mit dem Tode Wes Dalbergs und den toten Tieren von Irvine Park zu tun.
»Aber«, meinte der Arzt, »kein Kojote würde ein Mädchen von Tracys Größe angreifen. Die werden nur ganz kleinen Kindern gefährlich. Und ich glaube auch nicht, daß ihre Wunden von der Art sind, wie ein Kojote sie einem zufügen würde.« Walt meinte: »Soweit ich gehört habe, hat ihr Vater den Angreifer mit einer Schrotflinte verjagt. Weiß er denn nicht, was sie angegriffen hat?« »Nein«, sagte Selbok. »Er konnte nicht sehen, was sich in der Dunkelheit abspielte, also gab er lediglich zwei Warnschüsse ab. Er sagte, etwas sei quer über das Grundstück gerannt und über den Zaun gesprungen, aber er konnte keine Einzelheiten erkennen. Er sagte, Tracy habe zuerst gesagt, es sei der Butzemann gewesen, der früher in ihrem Kleiderschrank lebte, aber da war sie bereits nicht mehr ganz bei Bewußtsein. Mir hat sie gesagt, es war ein Kojote. Also ... wissen Sie, was hier vorgeht? Können Sie mir irgend etwas sagen, was mir bei der Behandlung des Mädchens hilft?«
»Ich kann es nicht«, sagte Walt. »Aber Mr. Johnson hier ist mit der ganzen Lage vertraut.«
»Vielen Dank«, sagte Lem.
Walt lächelte nur.
Zu Selbok gewendet, meinte Lem: »Es tut mir leid, Doktor, aber ich bin nicht befugt, über den Fall zu sprechen. Jedenfalls würde nichts, was ich sagen könnte, irgendeinen Einfluß auf Ihre Behandlung von Tracy Keeshan haben.«
Als Lem und Walt schließlich Tracys Krankenzimmer betraten, während Dr. Selbok auf dem Korridor wartete, um sicherzustellen, daß ihr Besuch nicht zu lange dauerte, fanden sie ein hübsches dreizehnjähriges Mädchen vor, im Gesicht übel zugerichtet und bleich wie Schnee. Sie lag im Bett und hatte sich die Decke bis zu den Schultern hochgezogen. Obwohl man ihr schmerzstillende Mittel verabreicht hatte, war sie wach, ja hellwach, und es war offenkundig, weshalb Selbok ihr ein Beruhigungsmittel geben wollte. Sie versuchte es nicht zu zeigen, aber sie hatte Angst.
»Mir wäre lieber, du gehst jetzt«, sagte Lem zu Walt Gaines.
»Wenn dir Filet mignon lieber wäre, würden wir immer gut zu Abend essen«, sagte Walt. »Tag, Tracy, ich bin Sheriff Walt Gaines, und das hier ist Lemuel Johnson. Ich bin einer der nettesten Menschen, die es gibt, aber dieser Lem ist ein richtiger Stinker, das sagen alle - doch du brauchst keine Angst zu haben, ich- werde dafür sorgen, daß er sich anständig benimmt und nett zu dir ist. Okay?«
Gemeinsam zogen sie Tracy in ein Gespräch. Sie brachten schnell heraus, daß sie Selbok deshalb gesagt hatte, ein Kojote hätte sie angegriffen - obwohl sie wußte, daß das nicht stimmte -, weil sie bezweifelte, den Arzt - oder sonst jemanden - von der Wahrheit dessen, was sie gesehen hatte, überzeugen zu können. »Ich hatte Angst, die würden denken, ich hätte einen kräftigen Schlag auf den Kopf abbekommen, der mein Gehirn etwas durcheinandergebracht hat«, sagte sie. »Und dann würden die mich viel länger hierbehalten.«
Lem, der auf dem Bettrand saß, meinte: »Tracy, hab keine Angst, ich könnte denken, du spinnst. Ich glaube, ich weiß, was du gesehen hast, und ich möchte von dir nur eine Bestätigung dafür erhalten.«
Sie starrte ihn ungläubig an.
Walt stand am Fußende ihres Bettes und lächelte auf sie herab, als wäre er ein großer, liebevoller, zum Leben erwachter Teddybär. Er sagte: »Ehe du die Besinnung verlorst, hast du zu deinem Dad gesagt, der Butzemann habe dich angegriffen, der in deinem Schrank gewohnt hat.«
»Häßlich genug dafür war es«, sagte das Mädchen leise. »Aber der Butzemann wird's wohl nicht gewesen sein.«
»Dann sag mir, was es war«, bat Lem.
Sie starrte zuerst Walt, dann Lem an und seufzte schließlich. »Sagen Sie mir doch, was ich gesehen haben soll, und wenn es dem nahekommt, dann sag' ich Ihnen, woran ich mich erinnern kann. Aber ich werde nicht anfangen, weil ich ganz genau weiß, daß Sie dann glauben, ich hätte nicht alle Tassen im Schrank.«
Lem sah Walt mit unverhohlener Enttäuschung an. Er erkannte, daß es jetzt nicht mehr zu vermeiden war, daß einige der Fakten des Falles preisgegeben wurden.
Walt grinste.
Zu dem Mädchen gewandt, sagte Lem: »Gelbe Augen.«
Sie atmete hastig ein, wurde starr. »Ja! Das wissen Sie also, oder? Sie wissen, was es war.« Sie wollte sich aufsetzen, zuckte vor Schmerz zusammen, als sie dabei ihre Wunde strapazierte, und sank wieder ins Bett zurück. »Was war es? Was war es?«
»Tracy«, sagte Lem, »ich darf dir nicht sagen, was es war.
Ich habe einen Geheimhaltungseid unterzeichnet. Wenn ich den verletze, kann man mich ins Gefängnis stecken. Aber was viel wichtiger ist... ich würde den Respekt vor mir selbst verlieren.«
Sie runzelte die Stirn und nickte schließlich. »Ich denke, das kann ich verstehen.«
»Gut. Und jetzt sag mir alles, was du weißt.«
Wie sich herausstellte, hatte sie nicht viel gesehen, weil es finster gewesen war und ihre Taschenlampe den Outsider nur einen Augenblick lang beleuchtet hatte. »Ziemlich groß für ein Tier... vielleicht so groß wie ich. Die gelben Augen.« Sie schauderte. »Und das Gesicht war... so seltsam.«
»Inwiefern?«
»Knollig... ohne Form«, sagte das Mädchen. Obwohl sie schon zu Anfang sehr bleich gewesen war, wurde sie jetzt noch bleicher, an ihrem Haaransatz tauchten winzige Schweißtropfen auf, ihre Stirn wurde feucht.
Walt stützte sich auf das Gitter am Fußende des Bettes, vorgebeugt, ungeheuer interessiert, um sich nur ja kein Wort entgehen zu lassen.
Ein plötzlicher Santa-Ana-Wind rüttelte am Gebäude und erschreckte das Mädchen. Sie schaute angsterfüllt zum klappernden Fenster, wo der Wind klagend vorbeistrich, als hätte sie Angst, etwas würde die Scheiben zertrümmern und hereinkommen.
Genauso, erinnerte sich Lem, hatte sich der Outsider Zugang zu Wes Dalberg verschafft.
Das Mädchen schluckte. »Sein Maul war riesig... und die Zähne... «
Sie konnte nicht zu zittern aufhören, und Lem legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Es ist schon in Ordnung, Kleines. Jetzt ist es ja vorbei. Du hast das alles hinter dir.« Nach einer kleinen Pause, um sich zu beruhigen, aber immer noch zitternd, sagte Tracy: »Ich glaube, es war irgendwie haarig... oder hatte ein Fell... ich bin nicht sicher. Aber es war sehr stark.«
»Welcher Art von Tier hat es denn ähnlich gesehen?« fragte Lem.
Sie schüttelte den Kopf. »Gar keinem.«
»Aber wenn du sagen müßtest, daß es einem Tier glich, würdest du dann sagen, daß es eher wie ein Puma ausgesehen hat?«
»Nein, kein Puma.«