Schockiert sagte Nora; »O nein, so schlecht war sie nicht.« Auf dem ganzen Nachhauseweg blieb er stumm und brütete vor sich hin.
Als er sich an ihrer Tür von ihr verabschiedete, bestand er darauf, daß sie einen Termin mit Garrison Dilworth vereinbare, der der Anwalt ihrer Tante gewesen war und Nora jetzt in kleineren juristischen Angelegenheiten beriet. »Nach allem, was Sie mir gesagt haben«, meinte Travis, »hat Dilworth Ihre Tante besser gekannt als sonst jemand, und ich wette Dollars gegen Schmalzkrapfen, daß er Ihnen genug über sie erzählen kann, damit dieser verdammte Würgegriff sich endlich löst, mit dem sie Sie selbst aus dem Grab heraus noch festhält.« »Aber es gibt keine finsteren Geheimnisse um Tante Violet«, sagte Nora. »Sie war genau so, wie sie auf die Leute wirkte: in Wirklichkeit eine ganz einfache Frau. Und irgendwie traurig.« »Traurig. Daß ich nicht lache«, sagte Travis.
Er ließ nicht locker, bis sie sich schließlich einverstanden erklärte, den Termin mit Garrison Dilworth zu vereinbaren.
Als sie oben in ihrem Schlafzimmer versuchte, das Diane-Freis-Kleid auszuziehen, stellte sie fest, daß sie sich gar nicht ausziehen wollte. Den ganzen Abend über hatte sie sich ungeduldig danach gesehnt, aus der Kostümierung herauszukommen - ihr war es wie eine Kostümierung erschienen. Jetzt, im Rückblick, lag ein warmer Glanz über dem Abend, und diesen Glanz, diese Wärme wollte sie sich erhalten. Also ging sie wie eine sentimentale Oberschülerin mit dem Fünfhundert-DollarKleid ins Bett.
Garrison Dilworth' Büro war in seiner Ausstattung sorgfältig darauf ausgerichtet, Ehrbarkeit, Stabilität und Verläßlichkeit auszustrahlen. Eine wunderschön gearbeitete Eichenvertäfelung. Schwere königsblaue Gardinen, die an Messingstangen hingen. Regale mit in Leder gebundenen Gesetzesbüchern.
Ein wuchtiger Eichenschreibtisch.
Der Anwalt selbst war eine interessante Mischung aus Würde, Rechtschaffenheit - und Weihnachtsmann. Groß, ziemlich behäbig, mit dichtem silbergrauen Haar, über siebzig, aber immer noch die ganze Woche tätig, trug Garrison mit Vorliebe Anzüge mit Weste und Krawatten in gedeckten Farben. Trotz der vielen Jahre, die er als Kalifornier gelebt hatte, wies ihn seine tiefe, kultivierte Sprechweise deutlich als ein Produkt der Oberklasse der Ostküste aus, in diese hineingeboren, in ihr aufgewachsen und erzogen. Aber da war auch ein unzweifelhaft schelmisches Leuchten in den Augen, sein Lächeln kam rasch, war voll Wärme, eben ganz Weihnachtsmann.
Er schuf keinen Abstand, indem er hinter seinem Schreibtisch sitzen blieb, sondern setzte sich mit Nora und Travis in behagliche Armsessel an einen niedrigen Tisch, auf dem eine große Waterford-Schale stand. »Ich weiß nicht, was Sie hier zu erfahren hoffen. Es gibt keine Geheimnisse um Ihre Tante.
Keine großen, düsteren Enthüllungen, die Ihr Leben verändern werden ... «
»Das habe ich gewußt«, sagte Nora. »Tut mir leid, daß wir Sie belästigt haben.«
»Warten Sie«, sagte Travis. »Lassen Sie Mr. Dilworth ausreden.« Der Anwalt fuhr fort: »Violet Devon war meine Mandantin, und ein Anwalt hat die Verpflichtung, die Angelegenheiten seiner Mandanten auch über deren Tod hinaus vertraulich zu behandeln. Das ist wenigstens meine Ansicht, obwohl es in meinem Berufsstand durchaus Leute gibt, die sich nicht so lange daran gebunden fühlen. Da ich mit Violets engster Angehöriger und Alleinerbin spreche, gibt es wahrscheinlich sehr wenig, was ich Ihnen vorenthalten würde - falls es tatsächlich irgendwelche Geheimnisse zu enthüllen gebe. Ganz bestimmt sehe ich keine moralischen Hindernisse, die mich davon abhalten könnten, eine ehrliche Meinung über Ihre Tante abzugeben. Selbst Anwälten, Priestern und Ärzten ist es erlaubt, eine Meinung über Leute zu haben.« Er atmete tief durch und runzelte die Stirn. »Ich habe sie nie gemocht. Ich empfand sie als engstirnige, total selbstsüchtige Frau, die zumindest leicht... nun, sagen wir geistig labil war. Und die Art und Weise, wie sie Sie aufgezogen hat, war verbrecherisch. Nora. Ich meine nicht verbrecherisch im juristischen Sinne, also in einer Art und Weise, die die Behörden interessieren würde, aber nichtsdestoweniger verbrecherisch. Und grausam.«
Solange Nora sich zurückerinnern konnte, hatte sie immer das Gefühl gehabt, es gäbe da irgendwo in ihrem Inneren einen straffen Knoten, der lebenswichtige Organe und Blutgefäße einengte, Verkrampfungen erzeugte, ihren Blutkreislauf behinderte und sie zwang, mit halbwachen Sinnen zu leben, sich schleppend zu bewegen, als wäre sie eine Maschine, die nur ungenügend mit Energie versorgt wurde. Garrison Dilworths Worte lösten jenen Knoten plötzlich. Zum ersten Mal fühlte sie das Leben ungehindert durch sie hindurchströmen.
Ihr war immer bewußt gewesen, was Violet Devon ihr angetan hatte. Aber es zu wissen, reichte nicht, die harten Jahre innerlich zu überwinden. Ein anderer mußte ihre Tante verurteilen. Travis hatte Violet bereits angeprangert, und schon das war für Nora eine kleine Erleichterung gewesen. Aber es reichte nicht, sie ganz zu befreien. Denn Travis hatte Violet nicht gekannt, sein Urteil war deshalb nicht gewichtig genug. Garrison hingegen kannte Violet gut, und seine Worte befreiten nun Nora aus ihrem Joch.
Sie begann zu zittern, Tränen rannen ihr über das Gesicht, aber beides war ihr nicht bewußt, bis Travis sich aus seinem Sessel herüberbeugte und ihr tröstend die Hand auf die Schulter legte. Sie tastete in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch.
»Es tut mir leid.«
»Meine liebe Lady«, sagte Garrison, »entschuldigen Sie sich nicht dafür, daß Sie diesen eisernen Panzer sprengen, in dem Sie Ihr ganzes Leben lang gesteckt haben. Es ist das erste Mal, daß ich bei Ihnen eine starke Gefühlsregung erlebe, das erste Mal, daß ich Sie in einem anderen Zustand als dem extremer Scheu sehe, und das ist wirklich reizend anzusehen.« Er drehte sich zu Travis herum, Nora damit Zeit gebend, sich die Augen abzutupfen, und sagte: »Was haben Sie denn sonst noch von mir zu hören gehofft?«
»Es gibt einige Dinge, die Nora nicht weiß, Dinge, die sie wissen sollte und von denen ich nicht glaube, daß die Preisgabe selbst Ihren strengen persönlichen Kodex verletzen würde.« »Was zum Beispiel?«
Travis sagte: »Violet Devon hat nie gearbeitet und doch in relativem Wohlstand gelebt, war nie in Not und hat genügend hinterlassen, daß es für Nora für den Rest ihres Lebens reicht, wenigstens so lange, als sie in diesem Haus bleibt und ein Einsiedlerleben führt. Woher kam ihr Geld?«
»Woher es kam?« Garrison klang überrascht. »Das weiß Nora doch sicherlich.«
»Nein, das tut sie nicht«, sagte Travis.
Nora blickte auf und sah, daß Garrison Dilworth sie erstaunt ansah. Er blinzelte und sagte: »Violets Mann war in bescheidenem Maße wohlhabend. Er starb ziemlich jung, und sie erbte alles.«
Nora starrte ihn mit aufgerissenen Augen an und fand kaum den Atem zu sprechen. »Mann ?«
»George Olmstead«, sagte der Anwalt.
»Den Namen habe ich nie gehört.«
Garrison blinzelte wieder rasch, als ob ihm Sand in die Augen geflogen wäre. »Sie hat nie einen Gatten erwähnt?«
»Nie.«
»Aber hat denn nie ein Nachbar... «
»Wir hatten mit unseren Nachbarn keinerlei Kontakt«, sagte Nora. »Violet hielt nichts von ihnen.«
»Jetzt, wo ich es mir überlege«, sagte Garrison, »kann es durchaus sein, daß links und rechts von Ihnen bereits neue Nachbarn wohnten, als Sie zu Violet kamen.«
Nora schneuzte sich und steckte ihr Taschentuch weg. Sie zitterte immer noch. Das Gefühl, plötzlich aus den Ketten der Sklaverei befreit zu sein, hatte machtvolle Gefühle erzeugt, die aber jetzt der Wißbegierde Platz machten.
»Geht's wieder?« fragte Travis.
Sie nickte, sah Travis dann eindringlich an und sagte: »Sie haben es gewußt, nicht wahr? Das mit dem Mann, meine ich. Deshalb haben Sie mich hierhergebracht.«