Sie stellte die Arbeiten auf vier Stühle, aber es genügte ihm nicht, sie nur vom Sofa aus zu studieren. Er stand auf, um sie aus der Nähe zu betrachten, ging von einer Leinwand zur anderen, dann wieder zurück.
»Sie sind eine ganz superbe Fotorealistin«, sagte er. »Okay, ich bin kein Kunstkritiker. Aber, bei Gott, Sie sind so geschickt wie Wyeth. Aber da ist noch was anderes ... das Element des Unheimlichen in diesen zwei... «
Seine Komplimente hatten ihr die Röte ins Gesicht getrieben, sie mußte kräftig schlucken, um ihre Stimme wiederzufinden. »Ein bißchen surrealistisch.«
Sie hatte zwei Landschaften und zwei Stilleben gebracht. Jeweils eines war tatsächlich streng fotorealistisch. Aber die beiden anderen waren Fotorealismus mit stark surrealistischem Einschlag. Im Stilleben zum Beispiel waren einige Wassergläser, ein Krug, mehrere Löffel und eine durchgeschnittene Limone geradezu peinigend genau wiedergegeben, auf den ersten Blick wirkte die Szene sehr realistisch, auf den zweiten Blick allerdings fiel auf, daß eines der Gläser in die Fläche hineinschmolz, auf der es stand, und daß ein Limonenschnitz die Wand eines der Gläser durchdrang, als wäre das Glas um ihn herum geformt.
»Die sind brillant, Nora, ohne Zweifel«, sagte er. »Haben Sie noch mehr?«
Ob sie noch mehr hatte!
Sie begab sich noch zweimal in ihr Schlafzimmer und kehrte mit sechs weiteren Gemälden zurück.
Bei jeder neuen Leinwand wuchs Travis' Erregung. Und sein Entzücken und seine Begeisterung waren echt. Ursprüng-lich dachte sie, er tue das nur, um ihr gefällig zu sein, aber bald durfte sie sicher sein, daß er ihr nichts vormachte.
Indem er von einem Bild zum nächsten und wieder zurück wanderte, sagte er: »Ihr Farbgefühl ist exzellent.«
Einstein begleitete Travis durch den Raum, setzte hinter jede Aussage seines Herrchens ein leises Wuff und wedelte heftig mit dem Schweif, als wolle er damit seine Bestätigung des Urteils zum Ausdruck bringen.
»Da ist soviel Stimmung drin«, sagte Travis.
»Wuff.«
»Und es ist erstaunlich, wie Sie Ihr Medium beherrschen.
Ich habe nicht das Gefühl, Tausende von Pinselstrichen zu sehen. Statt dessen scheint es, als wäre das Bild wie durch Zauberei auf der Leinwand erschienen.«
»Wuff.«
»Schwer zu glauben, daß Sie keine schulmäßige Ausbildung haben.«
»Wuff.«
»Nora, diese Bilder sind mit Sicherheit gut genug, um verkauft zu werden. Jede Galerie würde sie sofort nehmen.« »Wuff.«
»Sie könnten davon nicht nur leben ... ich glaube, damit könnten Sie sogar verdammt berühmt werden.«
Weil Nora sich nie einzugestehen wagte, daß sie ihre Arbeit ernst nahm, hatte sie häufig, unter mehrmaliger Verwendung derselben Leinwand, ihre Bilder übermalt. Demzufolge waren viele ihrer Werke für immer dahin. Aber auf dem Dachboden hatte sie mehr als achtzig ihrer besten Arbeiten aufbewahrt. Und weil Travis jetzt darauf bestand, holten sie mehr als ein Dutzend dieser eingepackten Leinwände herunter, rissen das braune Papier auf und legten sie im Wohnzimmer aus. Soweit Nora sich erinnern konnte, war es zum ersten Mal, daß der düstere Raum hell und freundlich wirkte.
»Jede Galerie würde entzückt sein, damit eine Ausstellung zu veranstalten«, sagte Travis. »Lassen Sie uns doch morgen einige davon in den Wagen laden, zu ein paar Galerien bringen und hören, was die sagen.«
»O nein, nein!«
»Ich verspreche Ihnen, Nora, Sie werden nicht enttäuscht sein.
Plötzlich spürte sie die Klauen der Angst. Obwohl die Aussicht auf eine künstlerische Karriere erregend war, hatte sie doch Angst vor dem großen Schritt. Ein Schritt vom Klippenrand ins Nichts.
»Nicht jetzt«, sagte sie. »In einer Woche ... oder einem Monat... laden wir sie in Ihren Wagen und bringen sie in eine Galerie. Aber noch nicht jetzt, Travis. Ich kann einfach nicht... ich werde noch nicht damit fertig.«
Er grinste sie an. »Wieder eine Überladung der Sinne?«
Einstein trat zu ihr, rieb sich an ihrem Bein und blickte so freundlich zu ihr auf, daß Nora unwillkürlich lächeln mußte.
Sie kraulte den Hund hinter den Ohren und sagte: »So vieles hat sich so schnell ereignet. Ich kann das nicht alles verarbeiten. Ich habe immer wieder gegen Schwindelanfälle anzukämpfen. Mir ist, als säße ich auf einem Karussell, das sich schneller und schneller dreht und nicht mehr zu bremsen ist.« Was sie sagte, stimmte bis zu einem gewissen Grad. Doch es war nicht der einzige Grund, weshalb sie hinauszögern wollte, mit ihrer Kunst an die Öffentlichkeit zu treten. Sie wollte Zeit haben, diese herrliche Entwicklung auszukosten. Wenn sie die Verwandlung von der einsiedlerischen Jungfer zur ausgewachsenen Teilnehmerin am Leben zu rasch ablaufen ließ, würde später alles einfach ineinander verschwimmen.
Sie wollte jeden Augenblick ihrer Metamorphose genießen.
Nora Devon trat vorsichtig in eine neue Welt hinaus, als hätte sie von Geburt an schwer leidend in einem finsteren Zimmer verbringen müssen, angeschlossen an lebenserhaltende Maschinen, und wäre eben erst auf wundersame Weise geheilt worden.
Travis war für Noras Hervortreten aus dem Eremitendasein nicht allein verantwortlich. Eine gleichermaßen wichtige Rolle in dieser Verwandlung spielte Einstein.
Der Retriever hatte offensichtlich die Entscheidung getroffen, man dürfe Nora das Geheimnis seiner außergewöhnlichen Intelligenz anvertrauen. Nach der Episode mit der Zeitschrift >Die moderne Braut< und dem Baby in Solvang erlaubte ihr der Hund nach und nach weitere Einblicke in seinen ganz und gar nicht hundegemäßen Verstand.
Und Travis folgte Einsteins Beispiel und erzählte Nora, wie er den Retriever im Wald fand und wie etwas Fremdartiges -das er nie zu Gesicht bekam - ihn verfolgte. Er berichtete von all den erstaunlichen Dingen, die der Hund seitdem getan hatte; auch von Einsteins gelegentlichen Anfällen von Angst mitten in der Nacht, wenn er manchmal am Fenster stand und in die Dunkelheit hinausstarrte, als glaubte er, die unbekannte Kreatur im Wald würde ihn finden.
Eines Abends saßen sie stundenlang in Noras Küche, tranken kannenweise Kaffee, aßen hausgemachten Ananaskuchen und diskutierten über mögliche Erklärungen für die unheimliche Intelligenz des Hundes. Sofern Einstein nicht damit beschäftigt war. Kuchenstücke zu schnorren, lauschte er voll Interesse, als verstünde er, was sie über ihn sagten, und manchmal winselte er und ging ungeduldig auf und ab, als frustriere es ihn, daß seine Hundestimmbänder ihm das Sprechen nicht ermöglichten. Im wesentlichen ergaben sich keine Erklärungen, die der Diskussion wert gewesen wären.
»Ich glaube, er könnte uns sagen, woher er kommt und weshalb er so ganz anders ist als andere Hunde«, sagte Nora. Einstein wedelte geschäftig mit dem Schweif.
»Oh, da bin ich ganz sicher«, sagte Travis. »Die Art, wie er sich seiner selbst bewußt ist, ist ganz menschlich. Er weiß, daß er anders ist, und ich vermute, er weiß auch, weshalb. Und ich glaube, er würde uns gern mehr darüber sagen, wenn er nur wüßte, wie.«
Der Retriever bellte einmal, rannte ans andere Ende der Küche, rannte zurück, schaute zu ihnen empor, vollführte einen hektischen Tanz und ließ sich schließlich zu Boden fallen, den Kopf auf die Pfoten legend, wobei er abwechselnd schnaubende und winselnde Geräusche von sich gab: ein Bild rein menschlicher Frustration.
Am meisten faszinierte Nora die Geschichte jener Nacht, als der Hund sich so aufgeregt mit Travis' Büchersammlung befaßt hatte. »Er erkennt, daß Bücher ein Mittel der Kommunikation sind«, sagte sie. »Vielleicht spürt er sogar, daß es einen Weg gibt, Bücher dazu einzusetzen, den Abgrund zwischen ihm und uns zu überbrücken.«
»Wie?« fragte Travis und nahm sich eine Gabel Ananaskuchen.
Nora zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht. Aber vielleicht lag das Problem darin, daß die Bücher nicht von der richtigen Art waren. Romane, haben Sie gesagt?«