Nora würdigte diesen Vorschlag keiner Antwort.
»Ein Baby, das Violine spielte«, sagte Travis.
Einstein gab einen unglücklich wirkenden wimmernden Ton von sich.
Nora war noch immer auf allen vieren, nur einen halben Meter von dem Retriever entfernt, ihr Gesicht nahe dem seinen. »Also schön. So kommen wir nicht weiter. Wir müssen Fragen über diese Bilder stellen können und irgendwie Antworten bekommen.
»Gib ihm doch Papier und Bleistift«, sagte Travis.
»Ich meine das ernst«, sagte Nora, die gegenüber Travis mehr Ungeduld zeigte, als je bei Einstein.
»Ich weiß, das es ernst ist«, sagte er. »Aber lächerlich ist es auch.«
Sie ließ den Kopf einen Augenblick lang hängen, wie ein Hund, der unter der Sommerhitze leidet, hob dann plötzlich den Blick und sagte zu Einstein: »Wie schlau bist du wirklich, Köter? Willst du beweisen, daß du ein Genie bist? Willst du dir ewig unsere Bewunderung und unseren Respekt verdienen? Dann wirst du eines lernen müssen: auf meine Fragen mit einem einfachen Ja oder Nein zu antworten.«
Der Hund musterte sie interessiert und erwartungsvoll.
»Wenn die Antwort auf meine Frage ja lautet - dann wedle mit dem Schweif«, sagte Nora. »Aber nur, wenn die Antwort ja ist. Während wir diesen Test durchführen, mußt du es vermeiden, nur aus Gewohnheit zu wedeln oder weil dich irgend etwas aufgeregt hat. Schweifwedeln dient nur dazu, ja zu sagen. Und wenn du nein sagen willst, dann bellst du einmal. Nur einmal.«
Travis meinte: »Zweimal bellen heißt: >Ich würde lieber Katzen jagen<, und dreimal bellen: >Hol mir ein Budweiser.<«
»Bringen Sie ihn nicht durcheinander«, sagte Nora scharf.
»Warum nicht? Er bringt doch auch mich durcheinander.«
Der Hund würdigte Travis keines Blickes. Seine großen braunen Augen blieben eindringlich auf Nora gerichtet, während sie ihm das Wedeln-für-ja- und Bellen-für-nein-System ein zweitesmal erklärte.
»Also gut«, sagte sie. »Jetzt wollen wir's versuchen. Einstein, verstehst du die Ja-Nein-Signale?«
Der Retriever wedelte fünf- oder sechsmal mit dem Schweif und hörte dann auf.
»Zufall«, sagte Travis. »Hat nichts zu bedeuten.«
Nora zögerte einen Augenblick lang, während sie die nächste Frage überlegte, und sagte dann: »Kennst du meinen Namen?«
Der Schweif wedelte, hielt inne.
»Ist mein Name ... Ellen?«
Der Hund bellte. Nein.
»Ist mein Name ... Mary?«
Ein Bellen. Nein.
»Ist mein Name Nona?«
Der Hund rollte die Augen, als wolle er sie dafür tadeln, daß sie versuchte, ihn hereinzulegen. Kein Wedeln. Ein Bellen.
»Ist mein Name ... Nora?«
Einstein wedelte heftig.
Jauchzend vor Freude kroch Nora vorwärts, setzte sich auf und drückte den Retriever an sich.
»Da soll mich doch der Teufel holen«, sagte Travis und kroch zu ihnen hinüber.
Nora deutete auf das Foto, auf das der Retriever immer noch eine Pfote gelegt hatte. »Reagierst du auf dieses Bild, weil es dich an die Familie erinnert, bei der du einmal gelebt hast?«
Ein Bellen. Nein.
Travis sagte: »Hast du je bei einer Familie gelebt?«
Ein Bellen.
»Aber du bist kein wilder Hund«, sagte Nora. »Du mußte irgendwo gelebt haben, ehe Travis dich fand.«
Travis studierte die Anzeige von Blue Cross und glaubte plötzlich alle richtigen Fragen zu wissen. »Hast du wegen des Babys auf dieses Bild reagiert?«
Ein Bellen. Nein.
»Wegen der Frau?«
Nein.
»Wegen des Mannes in dem weißen Labormantel?«
Heftiges Wedeln: Ja. ja, ja.
»Er hat also bei einem Arzt gelebt«, sagte Nora. »Vielleicht ein Tierarzt.«
»Oder ein Wissenschaftler«, sagte Travis, einer Idee folgend, die ihm plötzlich gekommen war.
Einstein wedelte ein >Ja<, als das Wort Wissenschaftler fiel.
»Ein Forscher«, sagte Travis.
Ja.
»In einem Labor«, sagte Travis.
Ja, ja, ja.
»Du bist ein Laborhund?« fragte Nora.
Ja.
»Ein Versuchstier«, sagte Travis.
Ja.
»Und deshalb bist du so klug.«
Ja.
»Wegen etwas, das die mit dir gemacht haben.«
Ja.
Travis' Herz schlug wie wild. Sie standen jetzt tatsächlich in Verbindung, kommunizierten miteinander, bei Gott, nicht nur grobmaschig, auf die vergleichsweise primitive Art wie er und Einstein in jener Nacht, als der Hund aus Hundekuchen ein Fragezeichen gemacht hatte. Dies hier war Kommunikation höchst spezifischer Natur. Sie redeten, als wären sie drei Personen - nun, es war fast ein Gespräch -, und plötzlich würde nichts mehr so sein, wie es vorher gewesen war. Nein, in einer Welt, in der Menschen und Tiere den gleichen (wenn auch vielleicht verschiedenartigen) Verstand besaßen, in der sie sich dem Leben unter den gleichen Bedingungen stellten, mit den gleichen Rechten, den gleichen Hoffnungen und Träumen, konnte nichts mehr so sein, wie es einmal gewesen war. Schön. Okay. Vielleicht machte er jetzt zu viel daraus. Nicht allen Tieren war plötzlich Bewußtsein und Intelligenz auf menschlichem Niveau gegeben; dies war nur ein Hund, ein Versuchstier, vielleicht das einzige seiner Art. Aber Herrgott! Herrgott! Travis starrte den Retriever beinahe ehrfürchtig an, und es lief ihm eisig über den Rücken, nicht aus Furcht, sondern aus Staunen.
Nora sprach zu dem Hund, und aus ihrer Stimme war dieselbe Ehrfurcht herauszuhören, die Travis für kurze Zeit sprachlos gemacht hatte: »Die haben dich nicht einfach laufenlassen, oder?«
Ein Bellen. Nein.
»Du bist ihnen davongelaufen?«
Ja.
»An jenem Dienstagmorgen, als ich dich im Wald fand?« fragte Travis. »Warst du da gerade weggelaufen?«
Einstein bellte weder, noch wedelte er mit dem Schweif.
»Tage vorher?« fragte Travis.
Der Hund winselte.
»Er hat wahrscheinlich einen Zeitsinn«, sagte Nora, »weil praktisch alle Tiere dem natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus folgen, nicht wahr? Sie haben instinktive Uhren, biologische Uhren. Aber wahrscheinlich hat er keine Vorstellung von Kalendertagen. Er versteht wirklich nicht, wie wir die Zeit in Tage, Wochen und Monate aufteilen, also kann er Ihre Frage nicht beantworten.«
»Dann ist das etwas, was wir ihm beibringen müssen«, sagte Travis. Einstein wedelte heftig mit dem Schweif. »Davongelaufen ...«, meinte Nora nachdenklich.
Travis glaubte zu wissen, was sie jetzt dachte, und so sagte er, zu Einstein gewendet: »Die werden dich suchen, nicht wahr?«
Der Hund winselte und wedelte mit dem Schweif, was Travis als ein besonders betontes - von Furcht betontes - >Ja< deutete.
4
Eine Stunde nach Sonnenuntergang trafen Lemuel Johnson und Cliff Soames in Bordeaux Ridge ein. Ihnen folgten in zwei weiteren nicht gekennzeichneten Wagen acht NSA-Agentcn. Die ungeteerte, durch das Zentrum des Baugeländes führende Straße war von Fahrzeugen gesäumt, hauptsächlich Streifenwagen des Sheriffbüros sowie einigen Fahrzeugen der gerichtsmedizinischen Abteilung.
Lem registrierte verstimmt, daß die Presse bereits eingetroffen war. Die Journalisten und die Fernsehcrews mit ihren elektronischen Kameras waren durch einen Polizeikordon, einen halben Block vor dem vermutlichen Schauplatz des Mordes, ausgesperrt. Die NSA hatte die Einzelheiten über den Tod Wesley Dalbergs im Holy Jim Canyon und die miteinander in Verbindung stehenden Morde an den Wissenschaftlern von Banodyne unterdrückt und eine aggressive Desinformationskampagne geführt. Dadurch hatte die Presse von der Verbindung, die zwischen diesen Ereignissen bestand, bisher keine Kenntnis erlangt. Lem hoffte, daß die Hilfssheriffs, die die Sperren bewachten, zu Walt Gaines' engsten Vertrauten gehörten und auf die Fragen der Reporter mit steinernem Schweigen reagieren würden, bis man diesen eine überzeugende Geschichte auftischen konnte.