Einstein kehrte vom Fenster zurück, stand da und musterte sie, den Kopf leicht seitlich gelegt. Er versuchte sich sichtlich einen Reim darauf zu machen, weshalb sie sich so seltsam benahmen.
Der konsternierte Gesichtsausdruck des Retrievers erschien Travis und Nora als das Komischeste, was sie je gesehen hatte. Sie lehnen sich aneinander, hielten einander fest und lachten wie die Narren.
Der Retriever schnaubte beleidigt und kehrte zum Fenster zurück.
Als sie langsam die Kontrolle über sich selbst zurückgewannen und ihr Gelächter verstummte, wurde Travis bewußt, daß er Nora festhielt, daß ihr Kopf auf seiner Schulter lag, daß der physische Kontakt zwischen ihnen stärker war als alles, was sie sich bisher gestattet hatten. Ihr Haar roch sauber und frisch. Er konnte die Körperwärme spüren, die von ihr ausging. Plötzlich sehnte er sich nach ihr und wußte, daß er sie küssen würde, wenn sie den Kopf von seiner Schulter hob. Im nächsten Augenblick sah sie auf, und er tat das, was er gewußt hatte, das er tun würde - er küßte sie, und sie küßte ihn. Ein oder zwei Sekunden lang schienen sie nicht wahrzunehmen, was geschah, was es bedeutete; einen kurzen Augenblick lang war es ohne Bedeutung, süß und völlig unschuldig, nicht ein Kuß der Leidenschaft, sondern nur einer, der Freundschaft und große Zuneigung ausdrückte. Dann veränderte sich der Kuß, ihr Mund wurde weich. Ihr Atem begann schneller zu gehen, ihre Hand spannte sich um seinen Arm, sie versuchte ihn zu sich heranzuziehen, murmelte etwas in ihrem Verlangen, und der Klang ihrer Stimme brachte sie wieder zu sich. Abrupt verspannte sich etwas in ihr, sie wurde sich seiner als Mann bewußt, ihre schönen Augen weiteten sich voll Staunen -und Furcht - über das, was beinahe geschehen wäre. Travis zog sich sofort zurück, weil er instinktiv wußte, daß nicnt die Zeit dafür war, noch nicht. Wenn es einmal soweit war, daß sie sich liebten, dann mußte es genau richtig sein, ohne Zögern, ohne Ablenkung, weil sie sich den Rest ihres Lebens immer an ihr erstes Mal erinnern würden und weil die Erinnerung eine freudige und schöne sein sollte, wert, daß sie sie immer wieder hervorholten, tausendmal vorbeiziehen ließen, während sie zusammen alt wurden. Obwohl die Zeit noch nicht ganz gekommen war, ihre Zukunft in Worte zu kleiden, sie mit einem Gelübde zu bestätigen, hatte Travis doch keinen Zweifel, daß er und Nora Devon ihr künftiges Leben gemeinsam verbringen würden. Und er erkannte, daß er, im Unterbewußtsein, zumindest in den letzten Tagen, gewußt hatte, daß es unvermeidlich so kommen werde.
Nach einem Augenblick der Verlegenheit, in dem sie sich voneinander lösten und sich darüber klarzuwerden versuchten, ob sie über diesen plötzlichen Wandel in ihrer Beziehung etwas sagen sollten, sagte Nora schließlich: »Er ist immer noch am Fenster.«
Einstein preßte die Nase ans Glas und starrte in die Nacht hinaus.
»Könnte es sein, daß er die Wahrheit sagt?« überlegte Nora. »Könnte noch etwas aus dem Labor entflohen sein, ein so bizarres Wesen?«
»Wenn sie einen so klugen Hund hatten wie ihn, dann könnte ich mir vorstellen, daß sie auch noch andere, noch eigenartigere Dinge hatten. Und an jenem Tag damals war etwas im Wald.«
»Aber es besteht doch keine Gefahr, daß es ihn findet?
Nicht, nachdem Sie ihn so weit nach Norden gebracht haben.«
»Keine Gefahr«, stimmte Travis ihr zu. »Ich glaube nicht, daß Einstein begreift, wie weit wir uns von der Stelle entfernt haben, wo ich ihn gefunden habe. Was immer dort im Wald war, kann ihn jetzt nicht aufspüren. Aber ich wette, die Leute aus dem Labor haben eine riesige Suchaktion veranstaltet. Um die mache ich mir Sorgen. Und Einstein auch, deshalb spielt er gewöhnlich in der Öffentlichkeit den dummen Hund und zeigt seine Intelligenz nur mir und jetzt auch Ihnen. Er will nicht zurück.«
»Wenn sie ihn finden ...«, sagte Nora.
»Das werden sie nicht.«
»Aber wenn doch - was dann?«
»Ich werde ihn nie mehr hergeben«, sagte Travis. »Nie mehr.«
8
Um elf Uhr in jener Nacht hatten die Männer der Gerichtsmedizin den kopflosen Leichnam von Hilfssheriff Porter und den verstümmelten Körper des Vorarbeiters der Baugesellschaft aus Bordeaux Ridge abtransportiert. Man hatte sich eine geeignete Story einfallen lassen und sie den Reportern an den Polizeiabsperrungen geliefert. Und die Presseleute hatten sich allem Anschein nach damit abgefunden, hatten ihre Fragen gestellt, ein paar hundert Fotos gemacht und ein paar hundert Meter Videoband mit Bildern gefüllt, die in den Fernsehnachrichten morgen auf etwa hundert Sekunden zusammengeschnitten werden würden. (In diesem Zeitalter des Massenmordes und des Terrorismus waren zwei Opfer nicht mehr als zwei Minuten Fernsehzeit wert: zehn Sekunden für die Ansage, hundert Sekunden für den Film, zehn Sekunden für die zurechtgemachten Moderatoren, um Respekt und Betroffenheit zu zeigen - und dann weiter zu einer Story über einen Bikini-Wettbewerb, eine Zusammenkunft der Besitzer alter Ford-Modelle oder einem Mann, der behauptete, ein Raumschiff gesehen zu haben, das wie ein Frisbee aussah.) Die Reporter waren jetzt abgezogen, ebenso die Laborleute, die uniformierten Hilfssheriffs und sämtliche Agenten Lemuel Johnsons, ausgenommen Cliff Soames.
Wolken verdeckten den Halbmond. Die Scheinwerfer waren verschwunden; das einzige Licht kam jetzt von den Scheinwerfern von Walt Gaines' Wagen. Er hatte ihn herumgedreht, so daß die Scheinwerfer auf Lems Wagen gerichtet waren, der am Ende der ungepflasterten Straße parkte, so daß Lem und Cliff nicht im Finstern herumsuchen mußten. Im tiefen Dunkel hinter den Scheinwerfern ragten halbfertige Häuser wie fossile Skelette prähistorischer Reptilien auf.
Während Lem auf seinen Wagen zuging, fühlte er sich so wohl, wie es den Uniständen nach möglich war. Walt hatte sich einverstanden erklärt, den Bundesbehörden ohne Einspruch die Zuständigkeit zu überlassen. Obwohl Lem ein Dutzend Vorschriften übertreten und seinen Geheimhaltungseid verletzt hatte, indem er Walt die Einzelheiten des Francis-Projekts preisgab, war er sicher, daß Walt den Mund halten würde. Er hatte es geschafft, den Deckel auf dem Fall zu lassen; ein wenig lockerer vielleicht als vorher, aber immerhin noch an Ort und Stelle.
Cliff Soames erreichte den Wagen als erster, öffnete die Tür und stieg auf der Beifahrerseite ein. Und als Lem die Tür auf der Fahrerseite öffnete, hörte er Cliff im Wagen sagen: »O Jesus, o Gott.« Cliff rappelte sich vom Sitz hoch und wich zurück ins Freie, und als Lem auf der anderen Seite ins Wageninnere schaute, erkannte er, was Cliff so erschreckt hatte. Ein Kopf.
Ohne Zweifel der Kopf Teel Porters.
Er lag auf dem Fahrersitz, so abgestützt, daß das Gesicht Lem zugewendet war, wenn dieser die Tür öffnete. Der Mund war in einem lautlosen Schrei geöffnet. Die Augen waren verschwunden.
Lem taumelte zurück, griff unter sein Jackett und zog den Revolver.
Auch Walt Gaines war bereits aus dem Wagen, ebenfalls den Revolver in der Hand, und rannte auf Lem zu. »Was ist los?«
Lem deutete wortlos.
Walt hatte inzwischen den NSA-Wagen erreicht, schaute durch die offene Tür und stieß einen dünnen, angsterfüllten Laut aus, als er den Kopf sah.
Cliff kam von der anderen Seite um den Wagen herum, die mit der Mündung nach oben gerichtete Waffe in der Hand. »Das verdammte Killer-Ding war noch hier, als wir ankamen, während wir im Haus waren.«
»Vielleicht ist es immer noch da«, sagte Lem und sah sich besorgt in der Finsternis um, die sie von allen Seiten außerhalb der Scheinwerferbündel bedrängte.
Walts Blick wanderte über die nächtliche Baustelle. »Wir rufen meine Männer und starten eine Suchaktion.«
»Das hat keinen Sinn«, meinte Lem. »Das Ding haut sofort ab, sobald es deine Männer zurückkommen sieht... wenn es nicht bereits das Weite gesucht hat.«