Während der restlichen Junitage malte Nora ein wenig, verbrachte viel Zeit mit Travis und versuchte Einstein das Lesen beizubringen.
Sie und Travis waren beide nicht sicher, ob es möglich sei, den Hund trotz seiner Klugheit so etwas zu lehren; aber den Versuch war es wert. Wenn er gesprochene Sprache verstand, wie es der Fall zu sein schien, dann folgte daraus, daß man ihn auch lehren konnte, das gedruckte Wort zu lesen.
Natürlich konnten sie nicht absolut sicher sein, ob Einstein tatsächlich gesprochenes Englisch verstand, obwohl seine Reaktionen darauf passend und durchaus spezifisch waren. Es bestand die entfernte Möglichkeit, daß der Hund nicht die präzise Bedeutung der Wörter selbst verstand, sondern mittels einer schwach ausgeprägten Form von Telepathie die Wortbilder im Bewußtsein der Personen lesen konnte, wenn diese die entsprechenden Worte aussprachen.
»Aber ich glaube nicht, daß das der Fall ist«, sagte Travis eines Nachmittags, als er und Nora auf seiner Terrasse saßen, Eiswein tranken und Einstein dabei zusahen, wie er um den Rasensprenger herumtollte. »Vielleicht sage ich das nur, weil ich es nicht glauben will. Die Vorstellung, daß er so klug ist wie ich und telepathische Fähigkeiten hat, ist mir einfach zuviel. Wenn das der Fall wäre, dann sollte vielleicht ich das Halsband tragen und er die Leine halten.«
Ein Spanisch-Test schien zu ergeben, daß der Retriever tatsächlich auch nicht andeutungsweise über telepathische Kräfte verfügte.
Auf der Oberschule hatte Travis drei Jahre lang Spanisch gelernt. Als er sich später für die militärische Laufbahn und dort für die legendäre Delta Force entschieden hatte, hatte man ihn dazu ermutigt, seine Sprachstudien fortzusetzen; seine Vorgesetzten waren der Ansicht gewesen, die eskalierende politische Instabilität in Mittel- und Südamerika sei praktisch eine Garantie dafür, daß Delta immer häufiger Anti-TerroristenOperationen in spanischsprachigen Ländern werde durchführen müssen. Delta lag jetzt viele Jahre zurück, aber der Kontakt mit dem ziemlich großen Spanisch sprechenden Bevölkerungsteil Kaliforniens hatte es mit sich gebracht, daß er die Sprache immer noch relativ flüssig beherrschte.
Wenn er jetzt Einstein in Spanisch Befehle gab oder Fragen stellte, starrte der Hund ihn dumm an, wedelte mit dem Schweif, reagierte aber ansonsten nicht. Blieb Travis beim Spanischen, legte der Retriever den Kopf schief und wuffte, als wollte er fragen, ob das ein Witz sein solle. Falls der Hund geistige Bilder entziffern konnte, die im Bewußtsein des Sprechenden entstanden, dann würde er sie doch sicher unabhängig von der Sprache entziffern können, die diese Bilder inspirierte.
»Er ist kein Gedankenleser«, sagte Travis. »Sein Genie hat Grenzen - Gott sei Dank!«
Tag für Tag saß Nora auf dem Boden in Travis' Wohnzimmer oder auf der Terrasse, erklärte Einstein das Alphabet und versuchte ihm klarzumachen, wie aus jenen Buchstaben Wörter gebildet würden und in welcher Beziehung die gedruckten Wörter zu den gesprochenen stünden, die er bereits beherrschte. Hier und da übernahm Travis die Unterrichtsstunden, um Nora eine Ruhepause zu verschaffen, aber die meiste Zeit saß er nur daneben und las, weil er von sich behauptete, er besäße nicht die Geduld, um ein Lehrer zu sein.
Sie benutzte ein Ringbuch, um für den Hund ein eigenes Lesebuch zusammenzustellen. Auf die linke Seite klebte sie jeweils ein aus einer Zeitschrift ausgeschnittenes Bild und setzte dann auf der rechten Seite in Blockbuchstaben den Namen des abgebildeten Gegenstandes ein, alles einfache Wörter: BAUM, AUTO, HAUS, MANN, FRAU, STUHL ... Während sie neben Einstein saß, der das >Lesebuch< gelehrig anstarrte, deutete sie dann immer zuerst auf das Bild und anschließend auf das Wort und wiederholte es einige Male deutlich.
Am letzten Tag des Juni bereitete Nora ein gutes Dutzend nicht mit Aufschrift versehener Bilder auf dem Boden aus. »Jetzt machen wir wieder Prüfung«, erklärte sie Einstein.
»Wir wollen sehen, ob du es heute besser kannst als am Montag.«
Einstein saß ganz aufrecht da, die Brust vorgeschoben, den Kopf erhoben, als wäre er voll Vertrauen in seine Fähigkeiten.
Travis saß im Lehnsessel und schaute zu. »Wenn du versagst, Pelzgesicht, tauschen wir dich gegen einen Pudel ein«, meinte er, »einen, der Purzelbaum schlagen, sich totstellen und um Essen betteln kann.«
Nora freute, daß Einstein Travis ignorierte. »Jetzt ist nicht die Zeit für leichtfertige Reden«, tadelte sie.
»Ich bitte um Nachsicht, Professor«, sagte Travis.
Nora zeigte dem Hund eine Karte, auf der in Blockbuchstaben BAUM stand. Der Retriever ging ohne Fehl auf das Foto einer Fichte zu und deutete darauf, indem er es mit der Nase berührte. Als sie eine Karte hob, auf der AUTO stand, legte er eine Pfote auf das Foto des Wagens, und als sie HAUS hochhob, beschnüffelte er das Bild einer Villa im Kolonialstil. Auf diese Weise arbeiteten sie fünfzig Wörter durch, und der Hund ordnete zum erstenmal jedes gedruckte Wort dem Bild richtig zu, das es darstellte; Dieser Fortschritt entzückte Nora, und Einstein wollte nicht aufhören, mit dem Schweif zu wedeln. Travis meinte: »Nun, Einstein, aber bis du Proust lesen kannst, ist es noch weit.«
Nora ärgerte es, daß er ihren Musterschüler verspottete, und sie sagte: »Er macht das gut! Großartig! Schließlich können Sie nicht erwarten, daß er über Nacht Oberschulniveau erreicht. Er lernt schneller, als ein Kind lernen würde.« »Wirklich?«
»Ja, wirklich! Viel schneller, als ein Kind lernen würde.« »Nun, dann hat er sich vielleicht ein paar Hundekuchen verdient.«
Einstein rannte sofort in die Küche, um die Schachtel mit den Hundekuchen zu holen.
2
Der Sommer verging, und Travis kam aus dem Staunen nicht heraus, wie rasch Nora bei ihrem Leseunterricht mit Einstein Fortschritte machte.
Mitte Juli stiegen sie von ihrem selbstgemachten Lesebuch zu Bilderbüchern für Kinder auf und nahmen sich solche von Dr. Seuss, Maurice Sendak, Phil Parks, Susi Bohdal, Sue Drea-mer, Mercer Mayer und vielen anderen vor. Einstein schien an allen ungeheuren Spaß zu haben, aber am liebsten hatte er die Bücher von Parks, und ganz besonders - aus Gründen, die weder Nora noch Travis finden konnten - mochte er die reizenden Frosch-und-Kröte-Bücher von Arnold Loebel. Sie brachten aus der Stadtbibliothek Berge von Kinderbüchern nach Hause und kauften zusätzliche Stapel im Buchladen. Zuerst las Nora sie laut vor und legte dabei bedächtig den Finger unter jedes Wort, während sie es aussprach, und Einsteins Augen folgten ihrem Finger, während er sich mit ungeteilter Aufmerksamkeit über das Buch beugte. Später las sie das Buch nicht mehr laut, sondern hielt es dem Hund offen hin und blätterte für ihn um, wenn er - durch ein Winseln oder irgendein anderes Zeichen - zu erkennen gab, daß er mit dem Teil des Textes fertig war und sich an die nächste Seite machen wollte.
Einsteins Bereitschaft, stundenlang dazusitzen und sich auf die Bücher zu konzentrieren, schien ein Beweis dafür, daß er sie tatsächlich las und sich nicht nur die hübschen Zeichnungen ansah. Trotzdem beschloß Nora, ihn hinsichtlich des Inhalts einiger Bände zu prüfen, indem sie ihm eine Anzahl Fragen über die darin enthaltenen Geschichten stellte.
Nachdem Einstein >Frosch und Kröte im ganzen Jahr< gelesen hatte, klappte Nora das Buch zu und sagte: »Also schön. Und jetzt beantworte meine Fragen mit ja oder nein.«
Sie waren in der Küche, wo Travis für das Abendessen einen Auflauf aus Kartoffeln und Käse machte. Nora und Einstein saßen am Küchentisch. Travis unterbrach seine Küchenarbeit, um dem Hund bei der Prüfung zuzusehen.
Nora sagte: »Zuerst einmal - als Frosch Kröte an einem Wintertag besuchte, war Kröte im Bett und wollte nicht hinauskommen. Stimmt das?«
Einstein, der ebenfalls auf einem Küchenstuhl Platz genommen hatte, mußte auf dem Stuhl etwas zur Seite rücken, um den Schwanz freizubekommen, damit er damit wedeln konnte. Ja.