Nora fuhr fort; »Aber am Ende brachte Frosch Kröte dazu, daß sie hinausging, und da gingen sie eislaufen.«
Ein Bellen. Nein.
»Sie gingen schlittenfahren«, sagte sie.
Ja.
»Sehr gut. Später im gleichen Jahr, als Weihnachten war, gab Frosch Kröte ein Geschenk. War es ein Pullover?«
Nein.
»Ein neuer Schlitten?«
Nein.
»Eine Uhr für seinen Kamin?«
Ja, ja, ja.
»Ausgezeichnet!« sagte Nora. »Was wollen wir - jetzt als nächstes lesen? Was hältst du von dem hier: >Der phantastische Mr. Fox<?«
Einstein wedelte heftig.
Travis hätte es Spaß gemacht, eine aktivere Rolle bei der Erziehung des Hundes zu übernehmen, aber er konnte erkennen, daß die intensive Arbeit mit Einstein eine ungemein wohltuende Wirkung auf Nora hatte, und wollte das nicht beeinträchtigen. Statt dessen spielte er manchmal den Brummbär, stellte in Frage, ob es sich lohne, dem Köter das Lesen beizubringen, und machte geringschätzige Bemerkungen über das Tempo, mit dem der Hund Fortschritte machte, oder über seinen literarischen Geschmack. Dieses sanfte Genörgel reichte aus, um Nora in ihrer Entschlossenheit zu bestärken, an dem Unterricht festzuhalten, noch mehr Zeit mit dem Hund zu verbringen und zu beweisen, daß Travis unrecht hatte. Einstein reagierte nie auf solche negativen Bemerkungen, und Travis argwöhnte, der Hund übe Nachsicht, weil er das kleine Spiel durchschaute.
Warum Nora durch ihre Lehrtätigkeit aufblühte, wurde nicht klar. Vielleicht kam es daher, weil sie sich nie - auch nicht mit Travis oder ihrer Tante Violet - mit etwas so intensiv auseinandergesetzt hatte wie mit dem Hund und weil allein schon der Vorgang intensiver Verständigung sie dazu ermutigte, weiter aus ihrem Schneckenhaus herauszukommen. Vielleicht war es auch in hohem Maße befriedigend für sie, dem Hund das Geschenk der Bildung zu vermitteln. Sie war von Natur aus ein gebender Mensch, dem es Freude bereitete, das, was sie hatte, mit anderen zu teilen. Dabei hatte sie ihr ganzes Leben in mönchischer Abgeschiedenheit verbringen müssen, ohne ein einziges Mal Gelegenheit gehabt zu haben, diese Seite ihrer Persönlichkeit zu zeigen. Jetzt hatte sie die Chance, zu geben, und sie war mit ihrer Zeit und Energie großzügig und fand Freude an der eigenen Großzügigkeit. Außerdem argwöhnte Travis, daß sie durch ihre Beziehung zu dem Retriever ihre natürliche Gabe der Mutterschaft zum Ausdruck brachte. Ihre große Geduld war die der guten Mutter, die sich mit einem Kind abgab, und sie sprach häufig so zart und voller Zuneigung zu Einstein, daß es klang, als spräche sie zu einem eigenen, vielgeliebten Kind.
Was auch immer der Grund sein mochte, Nora wurde bei ihrer Arbeit mit Einstein immer gelockerter, ging immer mehr aus sich heraus. Mit der Zeit vertauschte sie ihre formlosen dunklen Kleider gegen sommerliche weiße Baumwollhosen, bunte Blusen, Jeans und T-Shirts und schien zehn Jahre verjüngt. Sie ließ ihr herrliches Haar im Schönheitssalon neu frisieren und bürstete diesmal nicht wieder alles aus. Sie lachte häufiger und gewinnender. Im Gespräch sah sie Travis in die Augen und wandte nur mehr selten scheu den Blick ab, wie sie das früher getan hatte. Sie war auch eher bereit, ihn zu berühren, ihm den Arm um die Hüfte zu legen, und es machte ihr Freude, wenn er sie an sich drückte und sie küßte, wenn auch ihre Küsse mehr die eines unsicheren Teenagers in der Zeit der ersten Liebe waren.
Am 14. Juli erhielt Nora eine Nachricht, die ihre Stimmung weiter hob. Das Büro der Staatsanwaltschaft in Santa Barbara rief sie an, um ihr mitzuteilen, daß sie vor Gericht keine Zeugenaussage gegen Arthur Streck machen müsse. Angesichts seines Vorstrafenregisters hatte Streck sich inzwischen überlegt, daß es wohl wenig Sinn habe, sich unter der Anklage der versuchten Vergewaltigung, der Körperverletzung und des Einbruchs nichtschuldig zu bekennen. Er hatte seinen Anwalt angewiesen, mit der Staatsanwaltschaft einen Handel abzuschließen, demzufolge sie alle Anklagen mit Ausnahme der Körperverletzung fallenließen, während Streck eine Gefängnisstrafe von drei Jahren akzeptierte, mit dem Vorbehalt, daß er wenigstens zwei Jahre verbüßen müsse, ehe eine Haftentlassung in Frage käme. Nora hatte sich vor dem Gerichtsverfahren gefürchtet. Plötzlich war sie frei, und als sie das feierten, wurde sie zum erstenmal in ihrem Leben leicht beschwipst.
Als Travis am selben Tag einen neuen Stapel Lesestoff nach
Hause brachte, entdeckte Einstein, daß Mickey-Mouse-Bücher und Comics darunter waren, und die Freude des Hundes über diese Entdeckung war ebenso groß wie die Noras über die Beschlüsse des Gerichts im Verfahren gegen Streck. Was ihn an Mickey, Donald Duck und den übrigen Angehörigen der Dis-ney-Bande so faszinierte, blieb ein Rätsel, doch daß es so war, konnte niemand leugnen. Einstein hörte nicht auf, mit dem Schweif zu wedeln, und besabberte Travis in seiner Dankbarkeit von oben bis unten.
Alles wäre bestens gewesen, hätte Einstein aufgehört, mitten in der Nacht im Haus von Fenster zu Fenster zu gehen und mit unverhohlener Angst in die Dunkelheit hinauszusehen.
3
Am Morgen des 15. Juli, einem Donnerstag, fast sechs Wochen nach den Morden in Bordeaux Ridge und zwei Monate nach der Flucht des Hundes und des Outsiders aus Banodyne, saß Lemuel Johnson allein in seinem Büro in einem der Obergeschosse im Bundesgebäude in Santa Ana, dem Sitz der Kreisbehörde von Orange County. Er starrte durchs Fenster hinaus in den von Schadstoffen gesättigten Dunst, der unter einer Inversionsschicht festsaß, die westliche Hälfte des Bezirks zudeckte und die Qual der fünfunddreißig Grad Hitze noch erhöhte. Der gallgelbe Tag paßte zu seiner sauren Stimmung.
Seine Pflichten beschränkten sich nicht auf die Suche nach den Laborflüchtlingen; dieser Fall beunruhigte ihn ohne Unterlaß, auch wenn er mit anderer Arbeit beschäftigt war. Er war nicht imstande, die Banodyne-Affäre aus seinen Gedanken zu verdrängen, auch nicht, wenn er schlief, und in letzter Zeit bekam er ohnehin nur vier oder fünf Stunden Schlaf. Er konnte Mißerfolge nicht ertragen.
Nein, in Wahrheit war er in diesem Punkt noch viel extremer: Er war davon besessen, keine Mißerfolge zu erleiden. Sein Vater, der sein Leben in Bettelarmut begonnen und ein erfolgreiches Geschäft aufgebaut hatte, hatte Lem den fast religiösen Glauben eingepflanzt, man müsse weiterkommen, Erfolg haben und alles vollenden, was man sich vorgenommen habe. Ganz gleich, wieviel Erfolg man gehabt habe, hatte sein Dad oft gesagt, das Leben könne einem jederzeit den Teppich unter den Füßen wegziehen, wenn man nicht fleißig sei. »Für einen Schwarzen ist es noch schlimmer, Lem. Für einen Schwarzen ist der Erfolg wie ein Drahtseilakt über dem Grand Canyon. Er ist da ganz hoch oben, und alles ist in Butter, aber wenn er einen Fehler macht, wenn er versagt, dann ist das ein meilentiefer Absturz in den Abgrund. Ja, in den Abgrund. Denn Mißerfolg bedeutet Armut. Und in den Augen vieler Menschen, selbst in dieser aufgeklärten Zeit, ist ein armer Schwarzer, der versagt hat, überhaupt kein Mann - er ist einfach bloß ein Nigger.« Das war das einzige Mal, daß sein Vater je das verhaßte Wort gebraucht hatte. Lem war mit der Überzeugung aufgewachsen, daß jeder Erfolg, den er für sich buchte, auf der Klippe des Lebens nur einen unsicheren Halt für die Zehen bedeutete; daß er stets in Gefahr war, von widrigen Winden von jener Klippe geblasen zu werden, und es einfach nicht wagen durfte, nachzulassen in seiner Entschlossenheit, sich festzuhalten und zu einem breiteren, sicheren Felsband emporzuklettern.
Er schlief schlecht, sein Appetit war gestört. Wenn er aß, hatte er nach der Mahlzeit unweigerlich Verdauungsstörungen. Seine Leistungen beim Bridge waren eine Katastrophe, weil er sich nicht mehr auf die Karten konzentrieren konnte; bei ihren wöchentlichen Zusammenkünften mit Walt und Audrey Gaines waren die Johnsons regelmäßig die Verlierer.