Während er in seinem Bürosessel saß und durchs Fenster schaute, hinaus auf die dunstiggelbe Luft des brütendheißen Sommertages, sagte er laut: »Verdammt, ich bin dafür ausgebildet, mich mit menschlichen Verbrechern auseinanderzusetzen. Wie, zum Teufel, kann man von mir erwarten, daß ich mit einer in die Realität entflohenen Alptraumfigur fertigwerde?«
Es klopfte an seiner Tür. Während er sich in seinem Sessel herumdrehte, öffnete sich die Tür. Cliff Soames kam rasch herein, aufgeregt und bestürzt. »Der Outsider«, sagte er. »Wir haben wieder eine Spur... aber zwei Leute sind tot.«
Vor zwanzig Jahren, in Vietnam, hatte Lems Hubschrauberpilot gelernt, wie man in unebenem Gelände aufsetzte und abhob. Jetzt, in dauerndem Funkkontakt mit den Hilfssheriffs des L.A. County, die bereits am Tatort eingetroffen waren, hatte er daher keine Schwierigkeiten, den Schauplatz durch Sichtnavigation ausfindig zu machen, wobei er sich anhand natürlicher Landmarken orientierte. Wenige Minuten nach ein Uhr setzte er seine Maschine auf einem kahlen Felskamm auf, der den Ausblick auf den Boulder Canyon im Angeles National Forest bot, knappe hundert Meter von der Stelle entfernt, wo man die Leichen gefunden hatte.
Als Lem und Cliff aus dem Hubschrauber stiegen und den Kamm entlang auf die versammelten Hilfssheriffs und Waldhüter zueilten, schlug ihnen ein heißer Wind entgegen, der den Duft von trockenem Buschwerk und Fichten mit sich trug. Nur einzelne Büschel von wildem Gras, von der Julisonne ausgedörrt und brüchig gemacht, hatten es geschafft, in dieser Höhenlage Wurzeln zu schlagen. Niedriges Buschwerk, darunter auch Wüstenpflanzen wie Mesquite, markierten die oberen Bereiche der Canyonflanken, die rechts und links von ihnen zu den unteren Hängen und der Canyonsohle abfielen, wo es Bäume und grünere Gewächse gab.
Sie befanden sich weniger als sechs Kilometer Luftlinie nördlich der Ortschaft Sunland, zweiundzwanzig Kilometer Luftlinie nördlich von Hollywood und dreißig Meilen nördlich des dichtbesiedelten Herzens der Großstadt Los Angeles, und doch schien es, als befänden sie sich inmitten der Wildnis, einer Einöde von tausend Kilometer Durchmesser, beunruhigend weit weg von jeder Zivilisation. Die Hilfssheriffs hatten ihre allradgetriebenen Fahrzeuge in einem Kilometer Entfernung auf einem primitiven Feldweg geparkt - Lems Helikopter hatte die Fahrzeuge beim Anflug überflogen - und waren zu Fuß mit den Männern vom Forstdienst zu der Stelle gegangen, wo man die Leichen gefunden hatte. Jetzt waren um die Leichen vier Hilfssheriffs, zwei Männer des gerichtsmedizinischen Bezirkslabors und drei Waldhüter versammelt, und sie alle machten den Eindruck, als wären sie ebenfalls an einem urzeitlichen Ort ausgesetzt worden.
Als Lem und Cliff eintrafen, waren die Männer des Sheriffs gerade damit fertig, die Überreste in Leichensäcke zu stopfen. Die Reißverschlüsse waren noch nicht zugezogen, und so konnte Lem erkennen, daß ein Opfer männlichen, das andere weiblichen Geschlechts war, beide jung und für eine Bergwanderung gekleidet. Ihre Wunden waren entsetzlich - die Augen fehlten.
Fünf Unbeteiligte waren bis jetzt gestorben, und das Gefühl schuldhafter Verstrickung ob dieses Blutzolls verfolgte Lem. In Situationen wie dieser wünschte er sich, sein Vater hätte ihn ohne jedes Gefühl der Verantwortung erzogen.
Hilfssheriff Hal Bockner, groß und gebräunt, aber mit erstaunlich dünner Stimme, informierte Lem über die Identität und den Zustand der Opfer: »Nach dem Ausweis, den der Mann bei sich hatte, hieß er Sidney Tranken, achtundzwanzig Jahre alt, aus Glendale. Der Körper weist mehr als ein Dutzend häßlicher Bißwunden auf, dazu Spuren von Klauen und Reißwunden. Die Kehle, wie Sie selbst gesehen haben, aufgerissen. Die Augen ...«
»Ja«, sagte Lem, der keine Notwendigkeit sah, sich mit den gräßlichen Einzelheiten länger zu befassen.
Die Männer aus dem gerichtsmedizinischen Labor zogen die Reißverschlüsse an den Säcken zu; in der heißen Juliluft klang das, als würden Eiszapfen gegeneinanderschlagen.
Hilfssheriff Bockner sagte: »Zuerst glaubten wir, irgendein Verrückter hätte Tranken mit dem Messer erledigt. Man hat es ja hier und da mit Spinnern zu tun, die sich in den Wäldern statt auf den Straßen herumtreiben und es auf Wanderer abgesehen haben. Also dachten wir... zuerst mit dem Messer getötet, und dann müßte all der andere Schaden von Tieren, Aasfressern, angerichtet worden sein, nachdem der Mann schon tot war. Aber jetzt... sind wir nicht mehr so sicher.«
»Auf dem Boden hier sehe ich aber kein Blut«, sagte Cliff Soames leicht erstaunt. »Da müßte doch eine ganze Menge sein.
»Sie sind nicht hier getötet worden«, sagte Bockner und fuhr dann, ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen, mit seinem Bericht fort. »Die Frau, siebenundzwanzig, Ruth Kasa-varis, ebenfalls aus Glendale, ebenfalls scheußliche Bißspuren, Reißwunden. Ihre Kehle ...«
Lem unterbrach ihn erneut und fragte: »Wann sind sie getötet worden?«
»Nun, ich schätze, ohne den Labortests vorgreifen zu wollen, daß sie am späten Abend des gestrigen Tages gestorben sind. Wir glauben, daß man die Leichen hier heraufgetragen hat, weil man sie auf der Kuppe leichter findet. Hier entlang führt ein stark begangener Bergweg. Aber von anderen Bergwanderern sind sie nicht gefunden worden. Es war ein routinemäßiger Flug der Feuerstreife. Der Pilot schaute nach unten und sah sie hier auf dem kahlen Boden liegen.«
Das Gelände hier oberhalb des Boulder Canyon lag mehr als vierzig Kilometer Luftlinie nordnordwest von Johnstone Peak, wo die jungen Leute in ihrem Camper vor dem Outsider Zuflucht gesucht und später mit einer .32-Pistole auf ihn geschossen hatten. Das war am 18. Juni gewesen, vor achtundzwanzig Tagen. Der Outsider mußte also, dem reinen Instinkt folgend, nordnordwestliche Richtung eingeschlagen haben und hatte ohne Zweifel häufig kehrtmachen müssen, wenn ihm ein Canyon den Weg versperrte; deshalb hatte er höchstwahrscheinlich in diesem bergigen Gelände zwischen neunzig und hundertdreißig Kilometer zurückgelegt, um die fünfzig Kilometer Luftlinie zu bewältigen. Trotzdem entsprach das nur einer Geschwindigkeit von fünf Kilometern pro Tag, höchstenfalls, und Lem fragte sich, was das Geschöpf während dieser Zeit getan hatte, wenn es nicht unterwegs war, schlief oder Nahrung jagte.
»Sie werden sehen wollen, wo diese zwei getötet wurden«, sagte Bockner. »Wir haben die Stelle gefunden. Und den Bau werden Sie auch sehen wollen.«
»Bau?«
»Das Versteck«, sagte einer der Waldhüter.
Die Hilfssheriffs, die Waldhüter und die Männer vom gerichtsmedizinischen Labor hatten Lem und Cliff seit ihrer Ankunft mit eigenartigen Blicken gemustert. Das überraschte Lem nicht. Die lokalen Behörden begegneten ihnen stets mit Argwohn und Neugier, weil sie es nicht gewohnt waren, daß eine mächtige Bundesbehörde wie die NSA auftauchte und die Zuständigkeit an sich zog. So etwas war eine Seltenheit. Jetzt aber wurde ihm bewußt, daß ihre Neugierde von anderer Art und anderem Ausmaß war als üblicherweise. Zum erstenmal spürte er ihre Furcht. Sie hatten etwas gefunden - den Bau, das Versteck, von dem sie sprachen -, was ihnen Anlaß zu der Annahme gab, daß dieser Fall noch eigenartiger war, als das plötzliche Auftauchen der NSA normalerweise bedeutete.