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In Anzug, Krawatte und geputzten Straßenschuhen waren weder Lem noch Cliff für einen Fußmarsch in den Canyon passend angezogen, aber keiner von beiden zögerte, als die Waldhüter vorangingen. Zwei Hilfssheriffs, die Laborleute und einer der drei Waldhüter blieben bei den Leichen, so daß die Gruppe, die jetzt den Abstieg begann, aus sechs Personen bestand. Sie folgten einem flachen Flußbett, das der Regen aus dem Boden gewaschen hatte, und bogen dann in eine Art Wildpfad. Nachdem sie bis zum Grunde des Canyons hinabgestiegen waren, wandten sie sich gegen Südosten und gingen einen knappen Kilometer weiter. Bald war Lem verschwitzt und mit einer dünnen Staubschicht bedeckt. Seine Socken und Hosenbeine waren mit Kletten übersät.

»Hier sind die beiden getötet worden«, sagte Hilfssheriff Bockner, während er sie auf eine von Pappeln, Zwergpinien und Büschen umgebene Lichtung führte.

Auf der fahlen, sandigen Erde und dem von der Sonne gebleichten Gras waren riesige dunkle Flecken auszunehmen: Blut.

»Und da hinten«, sagte einer der Waldhüter, »haben wir das Versteck gefunden.«

Es war eine seichte Höhle am Ansatz der Canyonwand, vielleicht drei Meter tief und sechs Meter breit, höchstens ein Dutzend Schritte von der kleinen Lichtung entfernt, wo die Wanderer ermordet worden waren. Die Höhlenöffnung war vielleicht zweieinhalb Meter breit, aber sehr niedrig, so daß Lem sich beim Betreten bücken mußte. Als er drinnen war, konnte er sich aufrichten, denn die Decke war hoch. Ein unangenehmer Modergeruch erfüllte den Raum. Das Licht fiel durch den Eingang und durch ein einen halben Meter weites, vom Wasser ausgehöhltes Loch in der Decke. Aber zum größten Teil lag der Raum im Dunkel, und es war hier bestimmt um acht Grad kälter als draußen im Canyon.

Nur Hilfssheriff Bockner hatte Lem und Cliff begleitet. Lem fühlte, daß die anderen nicht etwa deshalb draußenblieben, weil es sonst in der Höhle zu eng geworden wäre, sondern eher wegen des Gefühls des Unbehagens, das diese Behausung erzeugte.

Bockner hatte eine Taschenlampe. Jetzt knipste er sie an und ließ den Scheinwerferkegel über die Gegenstände wandern, die er ihnen zeigen wollte. Der Lichtstrahl vertrieb einige Schatten, ließ andere fledermausartig durch den Raum flitzen, bis sie sich anderswo wieder niederließen.

In einer Ecke war fünfzehn oder zwanzig Zentimeter hoch getrocknetes Gras aufgeschichtet, um auf dem Sandsteinboden eine Art Lager zu bilden. Neben dem Lager stand ein verzinkter Eimer, gefüllt mit relativ frischem Wasser, das vom nächsten Bach herbeigetragen worden war. Der Eimer stand offenbar deshalb da, damit der Schläfer einen Schluck trinken sonnte, wenn er mitten in der Nacht aufwachte.

»Er war hier«, sagte Cliff leise.

»Ja«, pfichtete Lem ihm bei.

Er fühlte instinktiv, daß der Outsider dieses Bett hier gemacht hatte; irgendwie hing seine fremde Wesenheit noch im Raum. Lem starrte den Eimer an und fragte sich, woher die Kreatur ihn hatte. Höchstwahrscheinlich hatte er auf dem Weg von Banodyne hierher beschlossen, sich schließlich irgendwo eine Höhle zu suchen und sich in ihr eine Weile zu verstecken. Dabei war ihm klargeworden, daß er ein paar Dinge brauchen würde, um sich das Leben in der Wildnis angenehmer zu machen. Wahrscheinlich hatte er eine Scheune, einen Stall oder ein leeres Haus aufgebrochen und dort den Eimer und verschiedene andere Dinge gestohlen, die Bockner jetzt mit seiner Taschenlampe anleuchtete.

Eine karierte Flanelldecke für kälteres Wetter, dem Aussehen nach eine Pferdedecke. Was Lem auffiel, war, wie ordentlich zusammengefaltet die Decke auf einem schmalen Felsvorsprung in der Wand neben dem Eingang lag.

Eine Taschenlampe. Sie lag auf demselben Sims wie die Decke. Der Outsider verfügte über ausnehmend gute Nachtsichtigkeit; das war eine der Konstruktionsvorschriften, nach denen Dr. Yarbeck gearbeitet hatte: In der Dunkelheit würde ein genetisch hergestellter guter Krieger so gut sehen können wie eine Katze. Wozu also die Taschenlampe? Es wäre denn ... Vielleicht hatte sogar ein Geschöpf der Nacht gelegentlich Angst vor der Dunkelheit.

Der Gedanke rührte Lem, und plötzlich tat die Bestie ihm leid, so wie sie ihm an jenem Tage leidgetan hatte, als er sie dabei beobachtet hatte, wie sie sich in primitiver Zeichensprache mit Yarbeck verständigt hatte, an jenem Tag, als sie sagte, sie wolle sich die eigenen Augen herausreißen, um sich nie wieder ansehen zu müssen.

Bockner ließ den Scheinwerferkegel wandern und richtete ihn auf zwanzig Schokoladenpapiere. Offenbar hatte der Outsider irgendwo unterwegs ein paar Großpackungen gestohlen. Das seltsame war, daß die Hüllen nicht zerknittert waren, sondern sorgfältig geglättet an der hinteren Wand lagen - zehn von Reese's Erdnußschokolade und zehn Bounty-Stangen. Vielleicht hatten dem Outsider die bunten Farben der Hüllen gefallen. Oder er hatte sie behalten, damit sie ihn an die Freuden erinnerten, die die Schokolade ihm bereitete, denn nach solchen Leckerbissen hatte das harte Leben, in das man ihn getrieben hatte, nicht mehr viele solcher Freuden zu bieten.

In der vom Bett am weitesten entfernten Ecke, tief im Schatten, war ein Haufen Knochen zu sehen; die Knochen von kleinen Tieren. Als die Schokolade aufgezehrt war, war der Outsider gezwungen gewesen, auf die Jagd zu gehen, um sich Nahrung zu verschaffen. Und ohne die Mittel, ein Feuer anzuzünden, hatte er sich wie ein Wilder von rohem Fleisch ernährt. Vielleicht hatte er die Knochen deshalb in der Höhle behalten, weil er Angst hatte. Hinweise auf sein Versteck zu geben, wenn er sie draußen wegwarf. Daß er sie in der dunkelsten, entferntesten Ecke seines Zufluchtsortes verstaute, deutete auf ein Gefühl für Ordnung hin, aber Lem erschien es zugleich, als habe der Outsider die Knochen deshalb im Schatten versteckt, weil er sich seiner eigenen Wildheit schämte.

Am mitleiderregendsten war wohl eine seltsame Sammlung von Dingen, die in einer Felsnische der Wand über dem Grasbett abgelegt waren. Nein, entschied Lem - nicht einfach abgelegt: Die Gegenstände waren sorgfältig angeordnet, wie um sie zur Schau zu stellen, ganz so, wie ein Liebhaber von Glaskunst, Keramik oder Maya-Töpferarbeiten vielleicht seine wertvolle Sammlung zur Schau stellen würde. Da gab es ein rundes Gebilde aus farbigem Glas, wie Leute es manchmal an ihr Terrassendach hängten, damit es die Sonne reflektiere; das Ding war vielleicht zehn Zentimeter im Durchmesser und zeigte eine blaue Blume vor blaßgelbem Hintergrund. Daneben glänzte ein Kupfertopf, der vielleicht einmal auf derselben - oder einer anderen - Terrasse eine Pflanze enthalten hatte. Neben dem Topf standen zwei Dinge, die sicherlich aus dem

Inneren eines Hauses stammten, vielleicht aus demselben Haus, in dem der Outsider die Schokolade gestohlen hatte: zunächst eine hübsche Porzellanplastik eines rotgefiederten Kardinalsvogelpärchens, das auf einem Zweig saß, wobei jede Einzelheit auf das Feinste herausgearbeitet war; sodann ein Briefbeschwerer aus Kristall. Offenbar wohnten selbst in der fremdartigen Brust von Yarbecks monströser Schöpfung ein Sinn für Schönheit und das Bestreben, nicht wie ein Tier zu leben, sondern als denkendes Wesen in einer Umgebung zu sein, die wenigstens entfernt an die Zivilisation erinnerte.

Lem spürte einen Stich im Herzen bei dem Gedanken an die einsame, gequälte, sich selbst hassende, nicht menschliche und doch der eigenen Wesenheit bewußten Kreatur, die Yar-beck in die Welt gesetzt hatte.

Zuallerletzt stand in der Nische über dem Grasbett eine Spardose in Form einer fünfundzwanzig Zentimeter hohen Micky-Maus-Figur.

Lems Mitleid wuchs, weil er wußte, weshalb diese Spardose das Interesse des Outsiders geweckt hatte: Bei Banodyne hatte man Experimente durchgeführt, um Ausmaß und Eigenart der Intelligenz des Hundes und des Outsiders zu bestimmen und festzustellen, inwieweit ihre Wahrnehmungen denen eines menschlichen Wesens glichen. Dem Hund und dem Outsider hatte man von Zeit zu Zeit getrennt Videobänder vorgeführt, Filmausschnitte aller Art: Passagen aus alten John-Wayne-Fil-men, eine aus >Krieg der Sterne<, Nachrichten, Szenen aus einer Vielzahl von Dokumentarfilmen - und alte Micky MausZeichentrickfilme. Die Reaktionen des Hundes und des Outsiders wurden gefilmt, und später prüfte man, ob sie begriffen, welche Teile der Videobänder echte Ereignisse und welche solche der Fantasie zeigten. Beide Kreaturen hatten mit der Zeit gelernt, Fantasie zu erkennen; aber seltsamerweise war die Fantasie, an die sie am liebsten glauben wollten und an die sie sich am längsten festklammerten, Mickymaus. Mickys Abenteuer mit ihren Freunden zogen sie in ihren Bann. Nachdem er aus Banodyne entflohen war, war der Outsider irgendwie auf diese Sparbüchse gestoßen und hatte sie haben wollen, weil durch sie das arme, verdammte Geschöpf an das einzige echte Vergnügen erinnert wurde, das es im Labor gekannt hatte.