Im Scheinwerferkegel von Hilfssheriff Bockners Taschenlampe glitzerte etwas auf dem Regal. Es lag dicht neben der Sparbüchse, und sie hätten es fast übersehen. Cliff stieg auf das Graslager und holte den blitzenden Gegenstand aus der Wandnische: eine acht mal zehn Zentimeter große, dreieckige Scherbe von einem Spiegel.
Hier verkroch er sich, dachte Lem. Hier versuchte er sich an seinen armseligen Schätzen zu freuen, sich eine Art Heim zu schaffen, so gut es ging. Hier nahm er gelegentlich dieses Spiegelfragment in die Hand und starrte sich an, suchte vielleicht voller Hoffnung nach wenigstens einem Zug in seinem Gesicht, der nicht häßlich war, versuchte vielleicht, sich mit dem abzufinden, was er sah, und schaffte es nicht. Schaffte es ganz sicher nicht.
»Du lieber Gott!« sagte Cliff Soames leise, dem offenbar dieselben Gedanken durch den Kopf gegangen waren. »Das arme Schwein.«
Noch etwas hatte der Outsider besessen: ein Exemplar des >People<-Magazins. Robert Redford war auf dem Umschlag abgebildet. Mit einer Klaue, einem scharfen Stein oder irgendeinem anderen Instrument hatte der Outsider Redfords Augen herausgeschnitten.
Das Magazin war zerknittert und zerfetzt, als wäre hundertmal in ihm geblättert worden. Hilfssheriff Bockner reichte es ihnen jetzt und meinte, sie sollten es noch einmal durchblättern. Als er das tat, sah Lem, daß die Augen jeder einzelnen abgebildeten Person entweder herausgekratzt, ausgeschnitten oder auf rohe Weise herausgerissen worden waren.
Die Gründlichkeit, mit der diese symbolische Verstümmelung vorgenommen worden war - nicht ein Bild in der Zeitschrift war verschont geblieben -, ließ es einem eisig über den Rücken laufen.
Der Outsider war armselig, ja, und bedauernswert.
Aber er war auch zu fürchten.
Fünf Opfer - einigen der Bauch aufgerissen, einige geköpft.
Man durfte die unschuldigen Toten nicht vergessen, keinen Augenblick lang. Weder die Liebe zur Mickymaus noch die Freude an schönen Dingen konnte solches Gemetzel entschuldigen.
Aber, Herrgott... Man hatte die Kreatur mit ausreichender Intelligenz ausgestattet, daß sie die Bedeutung und die Segnungen der Zivilisation erkannte, sich danach sehnte, akzeptiert zu werden und eine sinnvolle Existenz führen zu können. Gleichzeitig hatte man ihr die Lust an der Gewalttätigkeit eingepflanzt, einen Killerinstinkt, der keinem anderen im Tierreich nachstand, sollte dieses Wesen doch, gleichsam als vernunftbegabter Killer an der langen, unsichtbaren Leine, in den Krieg geführt werden. Ganz gleich, wie lange der Outsider in friedlicher Einsamkeit in seiner Canyonhöhle blieb, ganz gleich, wie viele Tage oder Wochen er seinem Drang zur Gewalt Widerstand leistete, er konnte sich nicht ändern. Der Stau in seinem Inneren würde wachsen, bis er nicht länger an sich halten konnte, bis das Hinmetzeln kleiner Tiere nicht genug psychische Erleichterung verschaffte, und dann würde er wieder größere, interessantere Opfer suchen. Es mochte durchaus sein, daß er sich für seine Wildheit verdammte, aber er war machtlos, es zu ändern. Noch vor Stunden hatte Lem darüber nachgedacht, wie schwer es für ihn selbst war, ein anderer zu werden als der, den sein Vater aufgezogen hatte, wie schwer es für jeden Menschen war, zu verändern, was das Leben aus ihm gemacht hatte. Aber möglich war es zumindest, sofern man die Entschlossenheit, die Willenskraft und die nötige Zeit hatte. Für den Outsider hingegen war ein Wandel unmöglich; Mord steckte in seinen Genen, war in ihn eingeschlossen, und er durfte sich keine Hoffnung auf Neugeschaffenwerden oder Erlösung machen.
»Was, zum Teufel, hat das alles zu bedeuten?« fragte Hilfssheriff Bockner, der seine Neugierde nicht länger bezähmen konnte.
»Glauben Sie mir«, sagte Lem, »Sie wollen das nicht wissen.«
»Was war in dieser Höhle?« fragte Bockner.
Lem schüttelte nur den Kopf. Wenn schon zwei weitere Menschen hatten sterben müssen, dann war es wenigstens ein Glücksfall, daß sie in einem Nationalpark ermordet worden waren. Hier war Bundesterritorium, womit der Dienstweg vereinfacht war, weil die NSA die Zuständigkeit für die Ermittlungen an sich ziehen konnte.
Cliff Soames drehte immer noch das Spiegelfragment in der Hand und starrte es nachdenklich an.
Nach einem letzten Blick in die Runde gab Lem Johnson sich und seiner gefährlichen Jagdbeute ein Versprechen: Wenn ich dich finde, werde ich nicht überlegen, ob ich dich lebend kriege; kein Fangnetz, keine Tranquillizergewehre, wie es die Wissenschaftler und die Typen vom Militär vorziehen würden; nein, ich werde dich schnell und sauber abschießen.
Das war so nicht nur am sichersten. Es würde auch ein Akt des Mitgefühls und der Barmherzigkeit sein.
4
Bis ersten August verkaufte Nora sämtliche Möbel und andere Habseligkeiten Tante Violets. Sie hatte einen Mann angerufen, der mit Antiquitäten und Möbeln aus zweiter Hand handelte, und er hatte ihr für das Ganze einen Pauschalpreis angeboten, den sie freudig akzeptierte.
Jetzt waren die Räume - mit Ausnahme des Geschirrs, des Tafelsilbers und der Möbel im Schlafzimmer, die sie selbst ausgewählt hatte - von Wand zu Wand leer. Das Haus schien jetzt gesäubert, gereinigt, exorziert. Alle bösen Geister waren ausgetrieben, und sie wußte, daß sie jetzt den Willen aufbringen würde, es völlig neu zu gestalten. Aber sie wollte das Haus nicht mehr haben, also rief sie einen Immobilienmakler an und ließ es zum Verkauf anbieten.
Auch ihre alten Kleider waren weg, alle; sie besaß jetzt eine völlig neue Garderobe mit Hosen, Röcken und Blusen, Jeans, Kleidern, wie jede andere Frau. Hier und da kam sie sich in leuchtenden Farben zu auffällig vor, aber sie widerstand stets dem Drang, etwas Dunkles, Eintöniges anzuziehen.
Den Mut, ihr künstlerisches Talent auf den Markt zu bringen und zu sehen, ob ihre Arbeit etwas wert war, hatte sie immer noch nicht gefunden. Travis gab ihr hier und da kleine, sehr zarte Anstöße, aber sie war noch nicht soweit, ihr zerbrechliches Ego auf den Amboß zu legen und jedem Gelegenheit zu geben, mit dem Hammer darauf einzuschlagen. Bald, aber noch nicht jetzt.
Manchmal, wenn sie sich im Spiegel betrachtete oder ihr Spiegelbild in einem in der Sonne silbrig glänzenden Schaufenster sah, wurde ihr bewußt, daß sie tatsächlich hübsch war. Nicht schön vielleicht, nicht umwerfend wie irgendein Filmstar, aber einigermaßen hübsch. Doch schien sie unfähig zu sein, diese für sie revolutionäre Wahrnehmung bleibend zur Kenntnis zu nehmen, wenigstens nie für längere Zeit, denn die Anmut ihres Gesichts überraschte sie alle paar Tage aufs neue, wenn es ihr aus einem Spiegel entgegenblickte.
Am fünften August saßen sie und Travis am späten Nachmittag am Küchentisch und spielten Scrabble, und sie hatte das Gefühl, gut auszusehen. Vor ein paar Minuten hatte sie vor dem Badezimmerspiegel wieder eine jener Entdeckungen gemacht; sie schaute in den Spiegel - und war mit ihrem Aussehen mehr denn je zufrieden. Jetzt, wieder am ScrabbleBrett sitzend, fühlte sie sich voll Schwung und Glück, wie sie das früher nie für möglich gehalten hätte. Sie fing an, unsinnige Wörter aus ihren Spielsteinen zu bilden und sie dann stimmgewaltig zu verteidigen, wenn Travis ihre Zulässigkeit in Zweifel zog.