Sie nahmen nur ein Zimmer und behielten Einstein bei sich Travis war so erschöpft, daß er Nora gerade noch einen Gutenachtkuß geben konnte, ehe er in tiefen Schlaf sank. Er träumte von Kreaturen mit gelben Augen, mißgestaltetem Kopf und einem Krokodilmaul voll Haifischzähnen.
Fünf Stunden später, zehn Minuten nach zwölf Uhr mittags, wachte er auf.
Nora war vor ihm aufgestanden, hatte geduscht und dann die einzigen Kleider, die sie bei sich hatte, wieder angezogen Ihr Haar war feucht und klebte bezaubernd an ihrem Nacken »Das Wasser ist schön heiß«, sagte sie.
»Das bin ich auch«, sagte er und umarmte und küßte sie. »Dann solltest du dich besser abkühlen«, sagte sie und entzog sich ihm. »Da sind kleine Ohren, die uns belauschen.« »Einstein? Der hat große Ohren.«
Im Badezimmer fand er Einstein auf dem Waschtisch Steher. und aus dem Waschbecken trinken, das Nora für ihn mit kaltem Wasser gefüllt hatte.
»Weißt du. Pelzgesicht, für die meisten Hunde ist die Toilette eine völlig ausreichende Trinkwasserquelle.«
Einstein nieste ihn an, sprang vom Waschtisch und trottete aus dem Bad.
Travis hatte kein Rasierzeug mit, fand aber, daß ein eintägiger Stoppelbart ihm genau das Aussehen liefern würde, das er für die Arbeit brauchte, die er sich für heute abend im Tender-loin-Viertel vorgenommen hatte.
Sie verließen das Motel und aßen im nächsten McDonald's das sie finden konnten. Nach dem Mittagessen fuhren sie zu einer Zweigstelle der Santa-Barbara-Bank, bei der Travis sein Scheckkonto unterhielt. Sie benutzten seine Computer-Bankkarte, seine Mastercard und zwei seiner Visa-Karten, um insgesamt vierzehnhundert Dollar in bar abzuheben. Anschließend suchten sie ein Büro von American Express auf und besorgten sich dort mit seiner Gold Card die maximal zulässigen Dollars in bar und viertausendfünfhundert in Reiseschecks. Zusammen mit den zweitausendeinhundert in bar und den Reiseschecks, die von ihren Flitterwochen übriggeblieben waren, verfügten sie jetzt über achttausendfünfhundert Dollar in flüssigen Mitteln.
Den restlichen Nachmittag bis zum frühen Abend gingen sie einkaufen. Mit den Kreditkarten kauften sie einen kompletten Satz Gepäckstücke und genügend Kleidung, um die Koffer damit zu füllen. Hinzu kamen Toilettenartikel für sie beide und ein elektrischer Rasierapparat für Travis.
Travis kaufte auch ein Scrabble-Spiel, und Nora sagte: »Du bist doch nicht in der Stimmung für Spiele, oder?«
»Nein«, erwiderte er geheimnisvoll und genoß ihre Verblüffung sichtlich. »Das erkläre ich dir später.«
Eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang, als sie die Einkäufe im geräumigen Kofferraum des Mercedes verstaut hatten, fuhr Travis ins Herz von San Franciscos Tenderloin, jenem Teil der Stadt, der unterhalb der O-Farrell Street eingezwängt zwischen Market Street und Van Ness Avenue liegt. Es war ein Viertel mit schmierigen Bars, in denen Oben-ohne-Tänze-rinnen auftraten, Go-go-Kneipen, wo die Mädchen überhaupt nichts anhatten, Salons, wo Männer pro Minute dafür bezahlten, bei nackten jungen Frauen sitzen zu dürfen und über Sex zu reden, wo man aber gewöhnlich mehr als bloß Gespräche geboten bekam.
Diese Entartungen waren für Nora eine schockierende Entdeckung, da sie doch angefangen hatte, sich für erfahren und weltoffen zu halten. Auf eine Jauchegrube wie Tenderloin war sie nicht vorbereitet gewesen. Die Augen gingen ihr über beim Anblick der grellen Neonreklamen, die Peepshows, Damenschlammringkämpfe, schwule Bäder und Massagesalons anpriesen. Einige der Aufschriften waren ihr völlig unverständlich, und sie fragte: »Was heißt das eigentlich - >mit Blick ins Himmelreich<?«
Während er nach einem Parkplatz suchte, sagte Travis: »Das heißt, daß die Mädchen völlig nackt tanzen und während ihres Tanzes die Schamlippen auseinanderschieben, um mehr von sich sehen zu lassen.«
»Nein!«
»Ja.«
»Mein Gott. Ich glaub' es nicht. Das heißt, ich glaube es -aber ich kann's nicht glauben. Und was heißt »extreme Nah-aufnahme<?«
»Das heißt, daß die Mädchen dicht an den Tischen der Gäste tanzen. Das Gesetz erlaubt keine Berührung, aber die Mädchen tanzen sehr nahe und schwingen den Gästen den Busen ins Gesicht. Man könnte vielleicht ein oder zwei, ganz bestimmt aber nicht drei Blatt Papier zwischen ihre Brustwarzen und die Lippen der Männer schieben«
Einstein schnaubte auf dem Rücksitz, als empfände er Ekel.
»Ganz deiner Meinung«, sagte Travis.
Sie kamen an einem krebsig aussehenden Lokal mit abwechselnd aufblitzenden roten und gelben Glühbirnen und blauen und purpurfarbenen Neonröhren vorbei, dessen Aufschrift LIVE SEX SHOW versprach.
Angewidert sagte Nora: »Mein Gott, >live sex<! Gibt es vielleicht auch Shows, wo sie mit den Toten Sex machen?«
Travis mußte so lachen, daß er fast mit einer Wagenladung dumm glotzender Collegeknaben kollidiert wäre. »Nein, nein nein. Selbst der Tenderloin hat seine Grenzen. >Live< meint nur das Gegenteil von >auf Film<. Man kann hier eine Menge Sex auf Film sehen, Kinos, die nur Pornografie zeigen. Aber die Kneipe hier verspricht live Sex auf der Bühne. Ich weiß nicht ob sie ihr Versprechen auch halten.«
»Und ich bin nicht daran interessiert, es genauer zu wissen!« sagte Nora, und das klang, als wäre sie Dorothy aus Kansas und gerade ins unbeschreibbare, neuartige Nachbarland von Oz eingewandert. »Was machen wir hier?«
»Das hier ist das Viertel, in das man geht, wenn man Dinge finden möchte, die auf dem Nob Hill nicht verkauft werden -wie zum Beispiel ganz junge Knaben oder wirklich große Mengen Dope. Oder falsche Führerscheine und andere gefälschte Papiere.«
»Oh«, sagte sie. »O ja, jetzt verstehe ich. Dieses Viertel wird von der Unterwelt kontrolliert, von Leuten wie den Corleones im >Paten<.«
»Ich bin sicher, daß die Mehrzahl dieser Kneipen der Mafia gehört«, sagte er, während er den Mercedes in eine Parklücke manövrierte. »Aber mach bloß nie den Fehler, die echte Mafia für nette, ehrenwerte Typen wie die Corleones zu halten.«
Einstein war damit einverstanden, im Mercedes zu bleiben. »Ich will dir was sagen, Pelzgesicht. Wenn wir wirklich Glück haben«, scherzte Travis, »dann beschaffen wir auch dir eine neue Identität. Und machen einen Pudel aus dir.«
Als sich das Zwielicht über die Stadt legte, stellte Nora zu ihrer Überraschung fest, daß die Brise von der Bucht herein so kühl war, daß sie die Nylonsteppjacken brauchten, die sie am Tage gekauft hatten.
»Die Nächte können hier selbst im Sommer kühl werden«, sagte er. »Bald kommt der Nebel. Die tagsüber in der Stadt aufgestaute Hitze zieht ihn vom Wasser herein.«
Selbst wenn die Abendluft mild gewesen wäre, hätte er sein ackert getragen, denn er hatte sich den geladenen Revolver in den Gürtel gesteckt und brauchte das Jackett, um ihn zu verbergen.
»Meinst du, daß du die Waffe wirklich brauchen kannst?« fragte sie, als sie den Wagen stehenließen und zu Fuß weitergingen.
»Höchstwahrscheinlich nicht. Ich trage den Revolver hauptsächlich als eine Art Ausweis.«
»Was?«
»Wirst schon sehen.«
Sie schaute zum Wagen zurück, wo Einstein ihnen durch das Heckfenster nachstarrte und dabei wie im Stich gelassen dreinsah.
Travis schien sich nur für jene Bars zu interessieren, deren Schilder entweder sowohl englische als auch spanische oder nur spanische Aufschriften hatten. Einige Lokale waren ausgesprochen schäbig, gaben sich gar nicht die Mühe, die abblätternde Farbe und den verschimmelten Teppichboden zu verbergen, während andere Spiegel und raffinierte Beleuchtung benutzten, um zu überdecken, daß sie in Wahrheit nur Ungezieferhöhlen waren. Ein paar waren sogar sauber und hatten aufwendiges Dekor. In jedem der Lokale sprach Travis in spanischer Sprache mit dem Barkeeper, manchmal auch mit Musikern, wenn welche da waren und gerade Pause machten, und ein paarmal verteilte er zusammengefaltete Zwanzigdollarscheine. Da Nora kein Spanisch sprach, wußte sie nicht, wonach er sich erkundigte oder weshalb er diese Leute bezahlte. Als sie dann auf der Straße waren und eine weitere dieser miesen Kneipen suchten, erklärte er ihr, daß die illegalen Einwanderer großteils aus Mexiko, San Salvador und Nicaragua kämen - verzweifelte Menschen, die vor wirtschaftlichen-. Chaos und politischer Unterdrückung geflohen seien. Deshalb interessierten sich wesentlich mehr spanisch sprechende Illegale für falsche Papiere als Vietnamesen, Chinesen oder die Angehörigen aller anderen Sprachgruppen zusammengenommen. »Und deshalb bekommt man am schnellsten Zugang zu einem Lieferanten falscher Papiere, wenn man die Latino-Un-terwclt anzapft.«