Belsey rief durch das Getöse:»Da ist ein Lukendeckel, Sir. Treibt genau vorm Bugspriet. «Er blickte Bolitho wild an.»Wollen wir über Bord springen?»
Bolitho drehte sich um. Das Deck erbebte von neuem, und noch eine Kanone raste durch eine Gruppe kriechender Seeleute. Dann erblickte er Hugh, der allein an der Achterdeckreling stand. Er gab keine Befehle mehr, sondern stand völlig regungslos da, als wolle er den Todeskampf seines Schiffes bis zum letzten teilen. Bolitho starrte noch einen Augenblick länger zu seinem mehr als eine Deckslänge entfernten Bruder hinüber. Er spürte plötzlich Verständnis, ja Mitleid, weil er nur zu gut wußte, was er in solchen Minuten empfunden hätte.
«Über Bord, Jungs!«sagte er dann barsch.»Seht zu, daß ihr beim Sprung gut klarkommt.»
Belsey und Farquhar sprangen zusammen, und er beobachtete, wie sie sich an den treibenden Lukendeckel herankämpften. Dann sagte Stockdale heiser:»So, Kapitän, ich springe mit Ihnen.»
Er packte gerade die Reling, als er hinter sich einen Schrei hörte und undeutlich einen Offizier wahrnahm, der sich das schräge Deck hinaufzog. Das Gesicht des Mannes war blutverschmiert, aber Bolitho erkannte den Leutnant, der seine einsame Haft auf dem Achterdeck geteilt und der von seiner Farm und seinen Zukunftsplänen gesprochen hatte. Plötzlich sah er die Pistole in der Hand des Leutnants. Gerade, als er sich über die Reling schwingen wollte, zuckte ein greller Blitz über das Deck, und etwas wie weißglühendes Eisen fuhr ihm quer über die Brust.
Stockdale wandte sich um und stieß einen kurzen, tierischen Schrei aus, der seine Seele zu sprengen schien. Dann holte er mit voller Kraft aus. Die Wucht des Axthiebes enthauptete den amerikanischen Offizier beinahe, so daß es den Anschein hatte, als verbeuge sich der Mann mit einem gräßlichen Gruß.
Bolitho spürte dumpf, wie Stockdale die Arme um ihn schlang und ihn hochhob, so daß er durch die Luft sauste. Seine Lungen barsten, Salzwasser drang ihm in die Kehle, und als er die Augen aufzuschlagen versuchte, umgab ihn nichts als stechende Finsternis. Dann wurde er auf das kleine Floß gezogen und hörte Belsey keuchen:»O diese verfluchten Schweinehunde! Sie haben den Kapitän umgebracht!»
Dann Farquhars Stimme, bebend, doch bestimmt:»Um Gottes willen, paßt auf. Da ist ein Boot. Duckt euch und keinen Laut!»
Bolitho versuchte zu sprechen, konnte aber nur zu Stockdales nebelhaftem Gesicht hinaufstarren, das sich gegen die niedrigen, jagenden Wolken abzeichnete. Er hörte Riemen und wie ein Boot durchs Wasser schnitt. Aber Gefangenschaft oder Tod waren nicht vergebens, diesmal nicht. Er lauschte den fernen Brechern, die gegen das Wrack der Fregatte schlugen, und den leisen Schreien derjenigen, die sich noch immer auf dem zerschmetterten Rumpf festkrallten.
Dann hörte er über sich einen scharfen Ruf, dem sofort das Knacken eines Flintenschlosses folgte. Es war alles noch ein Traum und schien ihn persönlich nicht zu berühren. Erst als eine Stimme laut auf englisch rief:»Da sind noch ein paar von den Teufeln im Wasser!«durchbrach langsames Begreifen Nebel und Schmerz.
«Nicht schießen!«brüllte Farquhar.»Nicht schießen, wir sind Engländer!»
Danach schienen alle auf einmal zu rufen, und als ein zweites
Boot längsseits kam, vernahm Bolitho wie von weither eine vertraute Stimme.»Wen haben Sie denn da, Mr. Farquhar?«Herrick brachte vor ungläubiger Erregung die Frage kaum über die Lippen.»Den Kapitän.»
Bolitho fühlte, wie ihn Hände über das Dollbord hoben, und sah über sich vage und verschwommen verzerrte Gesichter. Hände betasteten seinen Brustkorb, und von neuem durchzuckte ihn stechender Schmerz. Danach die lindernde Wirkung eines Verbandes und die ganze Zeit über das aufgeregte Durcheinander der Leute — seiner Leute.
Herricks Gesicht war sehr nah. Bolitho konnte das Leuchten in seinen Augen erkennen. Er hätte gern irgend etwas gesagt, um Herrick zu beruhigen. Aber er fand nicht die Kraft dazu. Statt dessen drückte er Herrick die Hand, ehe Dunkelheit ihn wie ein Mantel einhüllte.
XII Den Feinden Verderben!
Die Spätnachmittagssonne flimmerte über dem geschützten Wasser der Bucht und warf ein tanzendes Muster an die Decke über Bolithos kleinem Tisch. Er brauchte nur den Kopf zu drehen, um die saftig grünen Abhänge Antiguas und ein paar verstreute Gebäude rings um den Hafen St. John zu sehen. Er mußte sich geradezu zwingen, seinen Bericht für den Admiral zu vollenden.
Bolitho stützte die Stirn in die Hand, spürte, daß Müdigkeit ihn überwältigte, ihm Einhalt gebieten, ihn dazu bringen wollte, alles andere zu tun, nur nicht das, was er erledigen sollte. Er fühlte den steifen Verband und ließ sich in die jüngste Vergangenheit zurückgleiten, wie so häufig seit seiner unerwarteten Rückkehr auf die Phalarope.
Wie bei allem anderen, so war es auch dabei schwierig, Tatsachen von den unbestimmten, wirren Bildern zu trennen, die mit dem Fieber gekommen und gegangen waren. Zu seinem Glück war die Pistolenkugel glatt zwischen den Rippen hindurchgegangen. Zurückgeblieben war eine tiefe, gezackte Narbe, die ihn bei jeder plötzlichen Bewegung zusammenzucken ließ.
Von dem Augenblick an, da er an Bord gebracht und die
Boote hastig an Deck gehievt worden waren, waren seine Erinnerungen verschwommen und lückenhaft. Der wüste, unvorhergesehene Sturm hatte das Alptraumartige seiner Erinnerungsbilder nur noch gesteigert. Zwei Wochen lang war das Schiff mit fast nackten Rahen vor dem heulenden Sturm nach Südwesten abgelaufen. Dann, während er sich aus der ungeschickten Obhut des Wundarztes und dem unbestimmten Kommen und Gehen seiner Offiziere herauskämpfte, hatte sich der Sturm gelegt, die Phalarope hatte endlich über Stag gehen können, um sich nach Antigua zurückzuarbeiten und ihren Bericht abzuliefern.
Bolitho prüfte nochmals die sorgfältig zusammengestellten Berichte und Namensnennungen. Nichts durfte fehlen. Es gab später keine Möglichkeit, etwas nachzutragen. Jeder Name weckte andere Erinnerungen, und er hatte das sonderbare Empfinden, Zuschauer zu sein.
Fähnrich Charles Farquhar, der sich auf eine Weise bewährt hatte, die weit über seine tatsächlichen Erfahrungen hinausreichte: ein Seeoffizier, der eines Tages ein Kommando verdienen würde — Steuermannsmaat Arthur Belsey, der trotz eines verwundeten Armes viel zur endgültigen Vernichtung der Andiron beigetragen hatte.
Bolitho tupfte mit der Feder nachdenklich auf Belseys Namen. Sein letzter wilder Sprung vom zerschmetterten Rumpf der Andiron hatte jede Hoffnung ausgelöscht, daß er je wieder richtig Dienst tun könnte. Der gebrochene Arm ließ sich nicht mehr retten, und Belsey würde für den Rest seines Lebens ein Krüppel bleiben. Glück, die gute Erwähnung im Bericht und Bolithos Empfehlung sicherten ihm vielleicht schnelle Entlassung und eine den langen Dienstjahren angemessene Abfindung. Wahrscheinlich würde er nach Plymouth zurückkehren, dachte Bolitho traurig, und eine kleine Kneipe eröffnen. Jeder Hafen war voll von solchen Männern: zerbrochen und vergessen, klammerten sie sich an den Saum des Meeres, das sie an den Strand geworfen hatte.
Leutnant Herricks Erstürmung der Batterie. . Nun, den bloßen Fakten ließ sich wenig hinzufügen. Hätte er versucht, die Wahrheit aufzuputzen, um das Lob zu verstärken, das Herrick so reichlich verdiente, würde der Admiral schnell die Kehrseite der Medaille sehen: nämlich daß der Erfolg zum großen Teil auf
Glück beruhte, das sich zu einer gehörigen Portion Wagemut gesellte.
Es gab so viele» Wenn«, grübelte Bolitho verdrossen.
Wenn die Boote mit dem Enterkommando dichter unter Land abgesetzt worden wären, wäre jetzt jeder tot oder gefangen. Wenn die Strömung für die Leute an den Riemen nicht zu stark gewesen wäre, hätte Herrick den unmöglichen Auftrag wie geplant ausgeführt, statt einen zweiten Weg eigener Eingebung einzuschlagen.