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Timothy besuchte seine Mutter nicht, während wir in Chikago waren. Dabei wohnten wir gar nicht mal so weit südlich von ihr, in einem Motel am See gegenüber dem Grant Park (Timothy bezahlte die Zimmer ohne Aufhebens mit einer Kreditkarte), aber er hat sie noch nicht einmal angerufen. Die wärmenden starken Bande des Familienlebens, der Goys, ja, ja. (Ruf an, zank dich, warum nicht?) Statt dessen nahm er uns zu einem nächtlichen Stadtbummel mit und führte sich einerseits so auf, als sei er der alleinige Besitzer, und andererseits, als sei er der Führer einer Touristengruppe im Gray Bus. Hier sehen sie die Doppeltürme von Marina City, dort das John Hancock Building, das ist das Kunstinstitut und das die großartige Ladenstadt an der Michigan Avenue. Ich war wirklich beeindruckt. Ich, der ich nie weiter westlich als Parsippany, New Jersey, gewesen bin, der aber eine klare und lebendige Vorstellung vom wahrscheinlichen Aussehen des großen amerikanischen Herzlandes hat. Ich hatte mit einem verdreckten und beengten Chikago gerechnet, einer summierten Öde des Mittelwestens, mit roten Backsteinhäusern aus dem neunzehnten Jahrhundert, sieben Stockwerke hoch, und einer Bevölkerung, die nur aus polnischen, ungarischen und irischen Arbeitern im Overall bestand. Statt dessen wartete diese Stadt mit breiten Straßen und leuchtenden Türmen auf. Die Architektur war überwältigend; nichts in New York ließ sich damit vergleichen. Natürlich sind wir nie vom See weggekommen. Geh nur mal fünf Straßenkreuzungen nach draußen, dann findest du die Öde, die du suchst, versprach Ned. Der schmale Streifen von Chikago, den wir sahen, war allerdings ein Märchenland. Timothy führte uns zum Dinner in ein französisches Restaurant, seiner Vorliebe, das gegenüber einem seltsamen antiken Monument lag, welches allgemein als Wasserturm bekannt war. Ein weiterer Beleg für die Wahrheit von Fitzgeralds Thesen über die Superreichen: Sie sind anders als du und ich. Ich kenne mich mit französischen Restaurants so gut aus wie andere mit tibetanischen oder marsianischen. Meine Eltern haben mich nie zu einer Feier ins Le Pavillon oder Chambard ausgeführt; zum Abitur ging es ins Brass Rail, zu Schraffts an dem Tag, als ich mein Stipendium erhielt, ein Dinner für drei Personen für etwas unter zwölf Dollar, und ich schätzte mich dafür glücklich. Bei den seltenen Gelegenheiten, wo ich ein Mädchen zum Essen ausführe, ist die Küche notwendigerweise nicht vornehmer als Pizza oder Kung po chi ding. Die Karte in Timothys Lokal, ein phantastisches Werk mit eingravierten Goldlettern auf Velinpapier, das größer war als die Times, war ein vollständiges Mysterium für mich. Aber da war Timothy mein Klassenkamerad, mein Zimmergenosse, der sich mit Leichtigkeit einen Weg durch diese Geheimnisse bahnte und uns vorschlug, wir sollten folgendes einmal versuchen: die quenelles aux huîtres, die crêpes farcies et roulées, die escalopes de veau à l’estragon, die tournedos santés chasseur, den homard à l’Americaine. Oliver war natürlich genauso verwirrt wie ich, aber zu meiner Überraschung erwies sich Ned, Ned mit seinem Untere-Mittelschichten-Background, der sich nicht wesentlich von meinem unterschied, als mit der Materie vertraut, und bewandert diskutierte er mit Timothy die relativen Vorzüge vom gratin de ris de veau, den rognons de veau à la Bordelaise, dem caneton aux cerises, den suprêmes de volaille aux Champignons. (Er erklärte später, daß er in jenem Sommer, als er sechzehn geworden war, als Küchenjunge in einem vornehmen Schlemmerlokal in Southampton gearbeitet habe.) Mir war es absolut unmöglich, mit dieser Karte etwas anzufangen, und so stellte mir Ned ein Essen zusammen. Timothy tat das gleiche für Oliver. Ich erinnere mich an Austern, Schildkrötensuppe, Weißwein, dem roter folgte, ein tolles Etwas von einem Lamm, Kartoffeln, die größtenteils aus Luft bestanden, Broccoli mit dicker gelber Sauce. Danach für jeden ein Glas Cognac. Legionen von Obern rauschten besorgt um uns herum, als seien wir vier Bankiers bei einer Sauftour und nicht vier schäbig bekleidete Studenten. Ich erhaschte einen Blick auf die Rechnung, und mir wäre fast das Herz stehengeblieben: 112 Dollar, ohne Trinkgeld. Mit großem Aufwand zückte Timothy seine Kreditkarte. Mir war heiß und schlecht, ich hatte ein totales Völlegefühclass="underline" Ich fürchtete, ich müßte mich auf den Tisch übergeben. Das Würgen verging, ohne mir Schande zu machen, und draußen fühlte ich mich besser, obwohl mir immer noch übel war. Ich notierte mir in Gedanken, daß ich vierzig oder fünfzig Jahre meiner Unsterblichkeit mit dem ernsthaften Studium der kulinarischen Kunst zubringen wollte. Timothy schlug vor, in einem der tollen Cafés etwas weiter im Norden weiterzumachen, aber wir anderen waren müde und überstimmten ihn. Zurück zum Hotel, ein langer Fußmarsch, vielleicht eine Stunde durch die schneidende Kälte.

Wir hatten eine Suite bezogen, mit zwei Schlafzimmern. Ned und ich in einem, Timothy und Oliver im anderen. Ich ließ meine Kleider zu Boden fallen und warf mich ins Bett. Zu wenig Schlaf, zu viel gegessen: schauderhaft, schauderhaft. Obwohl ich so erschöpft war, blieb ich mehr oder weniger wach, döste, war abgestumpft. Das reichhaltige Essen lag mir wie ein Stein im Bauch. Erst einmal richtig auskotzen, beschloß ich einige Stunden später, das wäre wohl das beste. Auf der Suche nach einer passenden Gelegenheit stapfte ich nackt zum Badezimmer, das die beiden Schlafzimmer voneinander trennte. Und begegnete einer schrecklichen Erscheinung im dunklen Korridor. Ein nacktes Mädchen, größer als ich, mit großen, schweren Brüsten, aufsehenerregenden, protzigen Hüften, ein Kranz kurzer, gelockter, brauner Haare. Ein Nachtgespenst! Ein Phantom, hervorgerufen von meiner überdrehten Phantasie! „Na, Süßer“, sagte sie, zwinkerte mir zu, tauchte mich in einen Hauch von Parfüm und sinnlichen Gerüchen und ließ mich zurück, um voller Erstaunen auf ihren opulenten, abziehenden Hintern zu starren, bis sich die Badezimmertür hinter ihm schloß. Angst und Geilheit ließen mich zittern. Noch nicht einmal auf einem Trip hatte ich solche realen Halluzinationen gehabt; konnte Escoffier bewirken, was dem LSD versagt blieb? Wie schön, wie kräftig, wie elegant sie war. Ich hörte das Wasser im Badezimmer laufen. Ich spähte in das andere Schlafzimmer, meine Augen hatten sich jetzt der Dunkelheit angepaßt. Überall lagen weibliche Bekleidungsstücke herum. Timothy schnarchte in einem Bett; im anderen lag Oliver, und auf Olivers Kissen ein zweiter Kopf, weiblich. Also keine Halluzinationen. Wo hatten sie bloß diese Mädchen her? Aus dem Nachbarzimmer? Nein, ich begriff: Callgirls, vom Zimmerservice besorgt. Die zuverlässige Kreditkarte hatte wieder einmal gewirkt. Timothy versteht den American Way of Life auf eine Weise, wie ich, der arme, verklemmte, gelehrtenhafte Bursche aus dem Ghetto, es mir nie erträumen kann. Sie wollen eine Frau? Heben Sie nur den Telefonhörer ab und fragen Sie. Mein Hals war trocken. Mein Schwanz hatte sich aufgerichtet; Donner in meiner Brust. Timothy schläft; sehr gut, da sie für die ganze Nacht angefordert wurde, werde ich sie mir eine Weile ausborgen. Wenn sie aus dem Badezimmer kommt, werde ich auf sie zustolzieren, eine Hand auf ihre Titten legen, die andere auf ihren Po, die samtige, satinartige Weichheit ihrer Haut spüren und sie mit einem Humphrey-Bogart-Tonfall aus tiefster Brust in mein Bett einladen. Jawohl. Und die Badezimmertür öffnete sich. Sie glitt heraus, die Brüste wippten auf und ab, ding-dong, ding-dong. Noch mal zwinkern. Und an mir vorbei, weg. Ich schnappte nach Luft. Ihr langgezogener, magerer Rücken, der in zwei erstaunlich kugelförmige Backen auslief. Der Geruch von billigem Moschusduft; der flüssige, hüftenschwingende Gang; die Schlafzimmertür wurde mir vor der Nase zugeschlagen. Sie ist gemietet, aber nicht für mich. Sie gehört Timothy. Ich ging ins Badezimmer, kniete mich an die Schüssel und verbrachte eine Ewigkeit mit Würgen. Dann zurück in mein einsames Bett zu kalten, bösen Träumen. Am Morgen waren die Mädchen nicht mehr zu sehen. Noch vor neun Uhr waren wir wieder auf der Straße, Oliver am Steuer, St. Louis unser nächster Reisepunkt, ich versank in apokalyptische Visionen. Ich hätte an diesem Morgen ein Weltreich zum Einsturz gebracht, wenn mein Daumen auf dem richtigen Knopf placiert gewesen wäre. Ich hätte Dr. Seltsam freigelassen, dem Fenriswolf die Tür geöffnet, ich hätte das ganze Universum durcheinanderwirbeln können, wäre nur die Gelegenheit dazu gegeben gewesen.