Damit blieben mir zweieinhalb Tage Zeit, um mich für eine Geschichte zu entscheiden, die ich Eli erzählen wollte. Natürlich wußte ich, welche Geschichte ich erzählen mußte. Es gab nur sie. Aber ich überlegte mir zwei oder drei Märchen als Ersatz, Surrogate für die eigentliche Geschichte, richtige Ausflüchte, um die einzige, notwendige Wahl zu treffen. So schnell, wie mir diese Ersatzmöglichkeiten in den Sinn kamen, verwarf ich sie auch wieder. Mir blieb nur die eine Wahl, nur ein wirklicher Brennpunkt von Scham und Schuld. Ich wußte nicht, wie ich den Schmerz ertragen sollte, der mich befallen würde, sobald ich erzählte, aber mir blieb nichts anderes übrig, als diese Geschichte zu erzählen, und ich hoffte, daß in dem Moment, wo ich mit ihr begann, der Schmerz vergehen würde; jedoch zweifelte ich stark daran. Darüber wirst du dir Gedanken machen, wenn es soweit ist, sagte ich mir. Und dann bemühte ich mich, das ganze Beichtproblem aus meinem Kopf zu verbannen. Ich glaube, das ist ein Beispiel für Verdrängung. Am Abend war ich schließlich soweit, daß ich Bruder Javiers Projekt vollständig vergessen hatte. Aber mitten in der Nacht wachte ich schweißüberströmt auf und bildete mir ein, daß ich gerade Eli alles erzählt hätte.
35. Kapitel
Timothy
Ned kam hereinstolziert, blinzelte und lächelte geziert. Er hat immer diese übertrieben rauschende Art an sich, wenn ihn etwas wirklich stark im Griff hat. „Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt“, sagte er in einem singenden Tonfall und zog seine pflaumenweiche Tour ab. Zuckte. Grinste. Rollte mit den Augen. Er war aufgekratzt, und ich erkannte, daß diese Beichte ihm zu schaffen machte. Nach langer Zeit kam die alte Jesuitenerziehung in ihm wieder zum Vorschein. Er wollte sein Geheimnis verraten, und ich sollte das Ziel dieses Bekenntnisses sein. Plötzlich wurde mir bei dem Gedanken, hier sitzen und einer schwülen Schwulengeschichte zuhören zu müssen, ganz übel. Warum, zum Teufel, sollte ich hier seinen schlüpfrigen Bekenntnissen zuhören? Wie kam ich überhaupt dazu? Ich sagte: „Willst du mir wirklich das große Geheimnis deines Lebens erzählen?“
Er wirkte überrascht. „Aber natürlich will ich das.“
„Mußt du?“
„Ob ich muß? Timothy, das wird von uns erwartet. Und davon abgesehen, will ich es auch.“ Ja, er wollte wirklich. Er gierte, es kribbelte ihn, er wirkte erhitzt und geladen. „Was ist los mit dir, Timothy? Hast du kein Interesse an meinem Privatleben?“
„Nein.“
„Na, na, laß nichts Menschliches dir fremd sein.“
„Ich will es nicht hören. Und ich hab’ das auch nicht nötig.“
„Zu schade, Mann. Ich muß es nämlich erzählen. Bruder Javier hat gesagt, daß das Abladen meiner Schuld notwendig für die Verlängerung meines irdischen Daseins ist, und deshalb werde ich es herauslassen, Mann. Ich werde es herauslassen.“
„Wenn es unbedingt sein muß“, sagte ich resignierend.
„Mach es dir bequem, Timothy. Sperr die Ohren weit auf. Dir bleibt gar nichts anderes übrig, als zuzuhören.“
Und ich hörte zu. Ned ist ein seelischer Exhibitionist, wie viele Leute von seiner Sorte. Er möchte sich in Selbstbeschuldigungen und intimen Enthüllungen suhlen. Er erzählte seine Geschichte dramaturgisch sehr geschickt, setzte einzelne Details wie ein Kurzgeschichtenautor ein, der er ja vorgab zu sein; betonte dieses, kürzte jenes. Was er mir erzählte, war genau das, was ich erwartet hatte: eine schmutzige Schwulenstory. „Das geschah“, sagte er, „noch bevor wir uns kennengelernt haben, im Frühling unseres ersten Studienjahres, als ich noch nicht ganz achtzehn war. Ich wohnte in einem Apartment außerhalb des Uni-Geländes mit zwei anderen Männern zusammen.“ Natürlich waren die beiden ebenfalls schwul. Und eigentlich war es ihr Apartment. Ned war nach den zweiten Trimesterferien zu ihnen gezogen. Sie waren acht oder zehn Jahre älter als Ned und lebten bereits seit langer Zeit im Schwulenäquivalent einer Ehe zusammen. Der eine war grobschlächtig, maskulin und der dominante Teil, der Assistent eines Professors für französische Literatur und außerdem ein ungestümer Sportler — sein Hobby war das Bergsteigen —, der andere sah eher wie eine stereotype Tunte aus, zerbrechlich und ätherisch, ziemlich weibisch, ein weicher, in sich gekehrter Poet, der die meiste Zeit zu Hause blieb, den Haushalt versorgte, die Topfpflanzen begoß, und wie ich vermute, hat er gestrickt und gehäkelt.
Nun jedenfalls, die beiden Schwulen lebten fröhlich zusammen und trafen eines Tages Ned in einer Schwulenbar. Sie fanden heraus, daß es Ned dort nicht gefiel, wo er gerade wohnte, und so luden sie ihn ein, zu ihnen zu ziehen. Allerdings galt dieses Angebot nur für die Unterbringung: Ned bekam sein eigenes Zimmer, er mußte seinen Anteil zur Miete und für Lebensmittel beitragen, und es gab keinen sexuellen Verkehr zu den beiden, die es unter sich recht vergnüglich trieben. Einen Monat oder zwei funktionierte die Sache. Aber wie ich annehme, ist Treue weder eine Eigenschaft der Schwulen noch der Normalen. Und Neds Anwesenheit in diesem Haushalt wurde ein Störfaktor, genauso wie die Anwesenheit eines achtzehnjährigen, gutaussehenden Mädchens eine normale Ehe belasten würde. „Bewußt oder unbewußt“, sagte Ned, „stellte ich eine außerordentliche Verlockung dar. Ich bin nackt in der Wohnung herumgelaufen, habe mit ihnen geflirtet und war auch sonst recht keß.“ Spannungen entstanden, und das Unvermeidliche geschah. Eines Tages zankte sich das Pärchen — möglicherweise sogar über Ned, er war sich da nicht ganz sicher —, und der Maskuline lief aus der Wohnung. Der Feminine kam ganz außer sich zu Ned, um Trost zu finden. Er tröstete „sie“, indem er „sie“ mit ins Bett nahm. Beide fühlten sich danach schuldig, aber das hinderte sie nicht, es einige Tage später wieder miteinander zu treiben. Schließlich wurde es ein regelmäßiges Verhältnis zwischen Ned und diesem Poeten, der Julian hieß. Inzwischen begann auch der andere, Oliver — interessant, nicht wahr, noch ein Oliver? —, der offensichtlich von dem Treiben zwischen Ned und Julian keine Ahnung hatte, Ned Avancen zu machen, und bald lagen auch diese beiden im Bett. Ned unterhielt somit mehrere Wochen zwei voneinander unabhängige Beziehungen mit beiden. „Es war ganz lustig“, sagte er, „eine Art Nervenkitzel — die heimlichen Verabredungen, die Notlügen, die Furcht, der andere könnte uns entdecken.“ Unheil lag in der Luft. Die beiden älteren Schwulen verliebten sich in Ned. Beide entschlossen sich, mit dem ursprünglichen Partner zu brechen und mit Ned weiterzuleben. Die Auseinandersetzung stand unmittelbar bevor. Ned erhielt von beiden Seiten Anträge. „Ich hatte absolut keine Ahnung, wie ich mich in dieser Situation verhalten sollte“, sagte Ned. „Zu dieser Zeit wußte Oliver, daß ich etwas mit Julian hatte, und Julian wußte, daß zwischen Oliver und mir etwas war, aber es war noch nicht zu offenen Feindseligkeiten gekommen. Falls ich mich zwischen den beiden hätte entscheiden sollen, hätte ich wohl etwas mehr in Richtung Julian tendiert, aber ich hatte keine Lust, derjenige zu sein, der die Entscheidung fällen sollte.“
Das Bild, das Ned für mich von sich zeichnete, war das eines naiven, unschuldigen Jungen, der in eine Sache hineingeraten war, für die er nichts konnte. Hilflos und unerfahren mußte er gegen die stürmische Leidenschaft von Julian und Oliver ankämpfen etc. etc. Aber unter der Oberfläche schimmerte noch etwas anderes durch, das nicht in Worten zum Ausdruck kam, sondern durch ein gelegentliches Schmunzeln, einzelne Augenaufschläge und andere nonverbale Kommentare zu der Geschichte. Zu jeder Zeit agiert Ned auf mindestens sechs Ebenen, und wenn er erzählt, wie naiv und unerfahren er ist, dann kann man sicher sein, daß gerade das nicht stimmt. Die unter der Oberfläche gelagerte Geschichte, die ich heraushörte, zeigte mir einen unheilvollen, ränkeschmiedenden Ned, der diese beiden unglücklichen Schwulen zu seinem persönlichen Vergnügen manipulierte — er stellte sich zwischen sie, verlockte und verführte sie abwechselnd und trieb sie in gegenseitige Rivalität um seine Zuneigung.