Выбрать главу

„Julian hatte sich unmittelbar nach unserer Abfahrt am Freitag die Pulsadern aufgeschnitten“, sagte Ned. „Ich fand ihn in der Badewanne. Er mußte schon mindestens zwölf Stunden tot sein. Begreifst du, Timothy, ich habe sie beide getötet. Begreifst du das? Sie haben mich geliebt, und ich habe sie zerstört. Und seit dieser Zeit trage ich die Schuld mit mir herum.“

„Du fühlst dich schuldig, weil du sie nicht ernst genug genommen hast, als sie ihren Selbstmord angedroht haben?“

„Ich fühlte mich schuldig, die ganze Verantwortung dafür übernommen zu haben, als sie es taten“, sagte Ned.

36. Kapitel

Oliver

Timothy erschien, als ich gerade ins Bett steigen wollte. Schlurfend kam er herein, machte einen säuerlichen und mürrischen Eindruck, und einen Moment lang wußte ich nicht, warum er überhaupt gekommen war. „Okay“, sagte er, als er sich schwerfällig an der Wand niederplumpsen ließ. „Dann laß es uns mal schnell hinter uns bringen, was?“

„Du siehst verärgert aus.“

„Das stimmt. Ich bin auf diesen ganzen verdammten Scheißhaufen sauer, in dem ich mich wälzen muß.“

„Das kannst du mir nicht zum Vorwurf machen“, sagte ich.

„Tu’ ich das denn?“

„Du hast nicht gerade eine freundliche Miene aufgesetzt.“

„Ich hege im Moment auch keine freundlichen Gefühle, Oliver. Ich würde, verdammt noch mal, am liebsten nach dem Frühstück von hier abhauen. Überhaupt, wie lange sind wir eigentlich schon hier? Zwei Wochen, drei Wochen? Verdammt zu lange, wie lange es auch sein mag. Verdammt zu lange.“

„Du wußtest, daß es seine Zeit brauchen würde, als du dich der Sache angeschlossen hast“, sagte ich. „Es war doch ganz klar, daß die Prüfung kein Schnellschuß sein würde, vier Tage lang, rein und raus. Wenn du jetzt aussteigst, machst du uns anderen alles kaputt. Und vergiß nicht, daß wir geschworen haben …“

„Wir haben geschworen, geschworen, geschworen, geschworen! Lieber Himmel, Oliver, du hörst dich jetzt genau wie Eli an! Machst mich an. Nörgelst an mir herum. Erinnerst mich, daß ich irgend etwas geschworen habe. Mein Gott, wie ich diese ganze tägliche Scheiße hier hasse! Ich komme mir vor, als würdet ihr drei mich wie in einer Zelle gefangenhalten.“

„Also bist du doch sauer auf mich.“

Er zuckte die Achseln. „Ich bin auf alles und jeden sauer. Wahrscheinlich bin ich auf mich selbst am meisten sauer. Darum, daß ich mich überhaupt darauf eingelassen habe. Weil ich nicht den Mut hatte, euch von Anfang an zu sagen, ihr bräuchtet nicht mit mir zu rechnen. Ich dachte, es würde spaßig, deshalb bin ich mitgekommen. Spaßig! Ha!“

„Du glaubst also immer noch, es sei die reine Zeitverschwendung?“

„Du nicht?“

„Ich habe eine andere Haltung“, erklärte ich ihm. „Ich spüre, wie ich mich von Tag zu Tag mehr verändere. Ich vertiefe die Kontrolle über meinen Körper. Weite meinen Sinneshorizont aus. In mir geht etwas Großartiges vor, Timothy, und das geht Ned und Eli genauso. Und es gibt keinen Grund, warum dir das nicht möglich sein sollte.“

„Wahnsinnige. Drei Wahnsinnige.“

„Wenn du mal versuchen würdest, weniger überheblich an die Sache heranzugehen, und mal wirklich an den Meditationen und Exerzitien teilnimmst …“

„Da haben wir es ja wieder. Schon wieder machst du mich an.“

„Tut mir leid, vergiß es, Timothy. Vergiß alles.“ Ich atmete tief durch. Timothy war vielleicht mein bester Freund, vielleicht auch mein einziger Freund, und jetzt plötzlich kotzte er mich an, kotzte mich sein großes, fleischiges Gesicht an, sein allzu kurz geschnittenes Haar, seine Arroganz, sein Geld, seine Vorfahren und seine Zweifel an allem, was über seinen Horizont ging. Ich war darum bemüht, meine Stimme unverbindlich und frostig klingen zu lassen, als ich sagte: „Hör mal, wenn es dir hier nicht paßt, dann zisch ab. Zisch einfach ab. Ich möchte nicht, daß du glaubst, jemand wolle dich hier festhalten. Geh einfach, wenn es das ist, was du willst. Und mach dir keine Gedanken über mich, über den Schwur und über den ganzen anderen Kram. Ich kann schon auf mich selbst aufpassen.“

„Ich weiß ja selbst nicht, was ich will“, murrte er, und einen Moment lang verließ der finstere Blick sein Gesicht. Die Miene, die er jetzt aufzog, hätte ich am wenigsten von Timothy erwartet: ein Ausdruck von Verwirrtheit, von Verletzlichkeit. Die Miene verschwand wieder und machte wieder dem finsteren Blick Platz.

„Und noch etwas“, sagte er und hörte sich wieder arrogant an, „warum, verdammt noch mal, muß ich jemandem meine Geheimnisse erzählen?“

„Das mußt du nicht.“

„Bruder Javier hat es angeordnet.“

„Was kümmert es dich? Wenn du schon keinen Ärger haben willst, dann fang doch gar nicht erst damit an.“

„Es ist ein Teil des Rituals“, sagte Timothy.

„Aber du glaubst ja gar nicht an das Ritual. Überhaupt, Timothy, wenn du sowieso morgen von hier abhauen willst, brauchst du dich doch an nichts zu halten, was Bruder Javier sagt.“

„Hab’ ich gesagt, daß ich gehe?“

„Du hast gesagt, daß du das willst.“

„Ich sagte, ich hätte große Lust dazu. Ich habe nicht gesagt, ich werde gehen. Und das ist nicht dasselbe. Ich bin mir darüber eben noch nicht im klaren.“

„Bleib oder geh, wie es dir beliebt. Beichte oder laß es, wie es dir beliebt. Aber wenn du das nicht tun willst, wozu Bruder Javier dich hergeschickt hat, dann hätte ich es lieber, du würdest gehen und mich schlafen lassen.“

„Hetz mich nicht, Oliver. Drängle mich nicht. Ich kann mich nicht so schnell entscheiden, wie du das willst.“

„Du hast den ganzen Tag Zeit gehabt, dir zu überlegen, ob du mir etwas erzählen willst oder nicht.“

Er nickte. Er beugte sich vor, bis sein Kopf zwischen den Knien hing, und blieb so eine sehr lange Zeit sitzen. Mein Ärger verpuffte. Ich konnte ja deutlich sehen, daß er in Schwierigkeiten steckte. Diesen Timothy hatte ich noch nie kennengelernt. Er wollte sich befreien, er wollte an dieser Schädelhaussache wirklich teilnehmen, aber auf der anderen Seite verachtete er hier alles so sehr, daß es ihm nicht gelingen wollte. Also ließ ich ihn in Ruhe und drängelte nicht. Ich ließ ihn nur dasitzen, und schließlich hob er den Kopf und sagte: „Wenn ich dir erzähle, was ich erzählen muß, welche Sicherheit habe ich dann, daß du es nicht weitererzählst?“

„Bruder Javier hat angeordnet, daß wir nichts vom Gehörten weitergeben dürfen.“

„Klar, aber wirst du auch den Mund halten können?“

„Hast du kein Vertrauen zu mir, Timothy?“

„In dieser Sache habe ich zu niemandem Vertrauen. Sie könnte mich zugrunde richten. Der Bruder hat nicht übertrieben, als er sagte, jeder von uns trüge etwas mit sich herum, daß er unter keinen Umständen herauslassen wolle. Ich hab’ viel Scheiß gebaut, natürlich, aber da gibt es eine derart beschissene Sache, daß sie mir fast heilig ist, eine Todsünde, so monströs ist die Sache. Jedermann würde mich verachten, wüßte er davon. Du wirst mich wahrscheinlich auch verachten.“

Sein Gesicht war angespannt und grau geworden. „Ich weiß nicht, ob ich wirklich darüber reden kann.“

„Dann tu es auch nicht.“

„Man erwartet von mir, daß ich damit herausrücke.“

„Nur, wenn du dich den Regeln des Buches der Schädel unterwirfst. Und das tust du ja nicht.“

„Wenn ich es aber wollte, müßte ich das tun, was Bruder Javier verlangt. Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Würdest du es wirklich nicht Eli oder Ned weitererzählen? Oder sonst jemandem?“

„Das werde ich wirklich nicht“, sagte ich.

„Ich wünschte, ich könnte das wirklich glauben.“