„Da kann ich dir nicht weiterhelfen, Timothy. Wie Eli sagt: Es gibt Dinge, an die mußt du einfach glauben.“
„Vielleicht können wir einen Handel machen“, sagte er schwitzend und mit verzweifelter Miene. „Ich werde dir meine Geschichte erzählen, und dann erzählst du mir deine. Damit stehen wir beide auf dem gleichen Stand. Wir haben beide etwas als Garantie in der Hand, damit es keinen Klatsch gibt.“
„Die Person, von der man erwartet, daß ich ihr beichte“, sagte ich, „heißt Eli. Nicht du, sondern Eli.“
„Also keinen Handel?“
„Nein.“
Timothy verfiel wieder in Schweigen, diesmal sogar noch länger. Endlich blickte er auf. Seine Augen erschreckten mich. Er befeuchtete die Lippen, seine Kiefer mahlten, aber kein Wort kam heraus. Er schien am Rande einer Panik zu stehen, und etwas von dieser Angst färbte auch auf mich ab; ich fühlte mich unbequem und war unruhig, überall schien es mich zu jucken und auf ungemütliche Weise kam es mir so vor, als hätte sich ein eng anhaftender Schleier der Erregung über mich gelegt.
Schließlich zwang er ein paar Worte heraus. „Du kennst doch meine Schwester“, sagte er.
Ja, ich kannte seine Schwester, hatte sie schon ein paarmal gesehen, als Timothy mich in den Weihnachtsferien mit zu sich nach Hause genommen hatte. Sie war drei oder vier Jahre jünger als er, eine langbeinige Blondine, die recht gut aussah, aber nicht allzu gescheit war: eine Margo ohne Margos Persönlichkeit. Timothys Schwester war ein typisches Wellesley-Mädchen, die stereotype Junior-League-Wohltätigkeitsveranstaltung-Debütantin, die obligate Tennis-, Golf- und Reitpartnerin. Sie hatte eine tolle Figur, aber andererseits wirkte sie auf mich kein bißchen attraktiv, denn ich wurde von ihrer Geschniegeltheit, ihrem Bewußtsein des Reichtums und ihrer Ausstrahlung von Rühr-mich-nicht-an-Jungfräulichkeit abgestoßen. Ich glaube nicht, daß Jungfrauen wahnsinnig aufregend sind. Diese hier vermittelte einem deutlich den Eindruck, sie stehe meilenweit über solch niedrigen und vulgären Dingen wie Sex. Ich konnte mir genau vorstellen, wie sie sich mit affektiertem Tonfall an ihren Verlobten wenden würde, wenn der arme Tropf gerade versuchte, seine Hand unter ihre Bluse zu bekommen: „Ach, Darling, sei doch bitte nicht so ungehobelt!“ Ich bezweifle, daß sie sich sonderlich viel mehr aus mir machte als ich mir aus ihr. Meine Kansas-Herkunft gab mir das Image eines Holzfällers, und mein Vater war nicht in den richtigen Clubs gewesen und ich nicht in der richtigen Kirche. Mein totaler Mangel an allen Ausweisen der Oberklasse ließ mich in die sehr große Klasse von männlichen Wesen plumpsen, die von Mädchen ihrer Sorte einfach nicht als mögliche Begleiter, Liebhaber oder Ehemänner in Betracht gezogen werden. Für sie war ich nur ein Teil des Inventars, wie der Gärtner oder ein Stallbursche. „Ja“, sagte ich, „ich kenne deine Schwester.“
Timothy starrte mich eine halbe Ewigkeit lang an.
„In meinen letzten Jahren auf der Schule“, sagte er mit einer Stimme, die so hohl und rauh wie ein verlassenes Grab klang, „habe ich sie vergewaltigt, Oliver. Ich habe sie vergewaltigt!“
Wahrscheinlich erwartete er nach diesem Bekenntnis, daß der Himmel sich öffnen und Blitze hinunterschleudern würde. Zumindest schien er von mir zu erwarten, daß ich zurückprallen, meine Augen bedecken und ausrufen würde, diese schockierenden Worte würden mich vernichten. Aber eigentlich war ich doch etwas überrascht, zum einen von der Tatsache, daß Timothy sich überhaupt mit einer solch unwürdigen Sache beschäftigt hatte, und zum anderen, daß ihm, als er es ihr besorgt hatte, überhaupt keine Konsequenzen daraus erwachsen waren — wie zum Beispiel, daß man ihn mit der Peitsche geschlagen hätte, als die ganze Familie aufgeschreckt von ihren Schreien, herbeigestürzt war. Und ich mußte mein Bild von ihr überdenken, jetzt, da ich wußte, daß der Schwanz ihres Bruders zwischen ihre hochmütigen Schenkel gestoßen war. Aber ansonsten war ich keineswegs überrascht. Da, wo ich herstamme, treibt die allgegenwärtige, übermächtige Langeweile die Jugendlichen oft in den Inzest oder in noch schlimmere Sachen; und obwohl ich meine Schwester nie gebumst habe, kannte ich jede Menge junger Burschen, die mit ihren Schwestern geschlafen haben. Es war lediglich ein Mangel an Neigung, kein örtliches Tabu, der mich dazu brachte, meine schmutzigen Finger von meiner Schwester zu lassen. Klar, für Timothy war das eine ziemlich ernste Sache, und so hüllte ich mich weiter in respektvolles Schweigen und setzte eine besorgte und bekümmerte Miene auf, als er mir seine Geschichte erzählte.
Zuerst sprach er nur zögernd, offensichtlich stark erregt, schwitzend, stockend und stammelnd, wie Lyndon B. Johnson, der damit beginnt, seine Vietnampolitik vor einem Kriegsgericht zu rechtfertigen. Aber schon wenig später flossen die Worte frei heraus, so als ob Timothy sich diese Geschichte schon oft in Gedanken erzählt und sie so oft überarbeitet hatte, daß er sie mittlerweile ganz automatisch abrollen lassen konnte, nachdem die Widerstände erst einmal abgebaut waren. Dieser Vorfall ereignete sich, sagte er, vor genau vier Jahren in jenem Monat, als er in den Osterferien aus Andover nach Hause gekommen war und seine Schwester ebenfalls vom Lyceum in Pennsylvania, das sie besuchte. (Zu dieser Zeit lag meine erste Begegnung mit Timothy noch fünf Monate in der Zukunft.) Er war achtzehn und sie ungefähr fünfzehneinhalb Jahre alt. Sie kamen nicht sonderlich gut miteinander aus, noch nie. Sie war ein Mädchen von der Sorte, deren Beziehung zu ihrem älteren Bruder sich immer auf dem Grad des Ungezogenseins von Katze und Hund bewegt hatte. Er hielt sie für außergewöhnlich ungehörig und aufgeblasen, sie ihn für außerordentlich rüde und tierisch. In den vergangenen Weihnachtsferien hatte er ihre beste Freundin und Klassenkameradin gebumst, was seine Schwester herausbekommen hatte, und dieser Vorfall belastete beider Beziehung nur noch mehr.
Timothy machte gerade eine schwere Zeit durch. In Andover war er der mächtige und allgemein bewunderte Anführer, ein Football-Star, Klassensprecher, ein bekanntes Symbol von Kraft und savoir faire; aber in wenigen Monaten schon würde er sein Abitur machen und all sein angehäuftes Prestige wäre keinen Pfennig mehr wert, wenn er als Erstsemester unter vielen auf eine große, weltbekannte Universität ginge. Das war ein richtiges Trauma für ihn. Außerdem hatte er eine anstrengende und aufwendige Liebesaffäre mit einem Mädchen aus Radcliffe geführt, die ein oder zwei Jahre älter war als er. Er liebte sie nicht, sie war für ihn nur ein Statussymbol, das ihn in die Lage versetzte zu sagen, er bumse mit einer Studentin; aber er glaubte fest daran, daß sie ihn liebte. Kurz vor Ostern hatte er von dritter Seite erfahren müssen, daß sie ihn in Wirklichkeit für ein amüsantes Schoßtier hielt, eine Art Oberschüler-Trophäe, die sie unter der immensen Anzahl ihrer Harvard-Bekanntschaften zur Schau stellen konnte; ihr Verhältnis zu ihm war kurz gesagt noch zynischer als seines zu ihr. So kam er in diesem Frühling ziemlich niedergeschmettert in die heimatlichen Gefilde; ein Gefühl, das für ihn neu war. Doch plötzlich schwamm er wieder in einer neuen Quelle des Hochgefühls. In seiner Heimatstadt lebte ein Mädchen, das er liebte, das er wirklich liebte. Ich weiß nicht, was Timothy unter „Liebe“ versteht, aber ich glaube, er wendet diesen Begriff auf jedes Mädchen an, das seinen Kriterien von Aussehen, Reichtum und Geburt entspricht und ihn nicht mit ins Bett nimmt. Das macht sie unerreichbar, das stellt sie auf ein hohes Podest, und deshalb redet er sich selbst ein, er „liebe“ sie. Auf eine gewisse Weise eine donquichottische Vorstellung. Dieses Mädchen war siebzehn und gerade in Barnington aufgenommen worden; sie entstammte einer Familie, die eine beinahe so erlesene Herkunft aufweisen konnte wie die von Timothy. Sie war eine olympiareife Pferdesportlerin, und, wie Timothy sagte, hatte den Körper eines Playmate-of-the-Year. Er und sie gehörten demselben Club an, und er hatte mit ihr schon seit der Kindheit getanzt und Tennis gespielt; aber seine gelegentlichen Versuche, ihre Bekanntschaft zu intensivieren, waren immer geschickt abgebogen worden. Er war derart besessen von ihr, daß er sogar daran dachte, sie eines Tages zu heiraten, und er gab sich der Illusion hin, daß sie ihn bereits zum zukünftigen Gatten erkoren habe; deshalb, so schloß er, ließ sie ihn auch nicht an sich heran, da sie wußte, daß er der Doppelmoral frönte, und sie befürchtete, er würde sie nicht mehr als heiratsfähig ansehen, wenn er zu früh auf sie hinaufklettern dürfte.