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Dann bemerkte ich plötzlich, daß jemand in mein Zimmer getreten war. Die Tür öffnete sich und wurde geschlossen. Schritte. Ich hielt das auch für einen Teil meiner Vorstellung. Ohne mich umzusehen entschied ich, daß Oliver zu mir gekommen sein mußte. Und in meinem traumatischen, triebhaften Zustand konnte ich mich selbst davon überzeugen, daß es Oliver war, es mußte ganz einfach Oliver sein. Und so war ich einen Moment lang recht verwirrt, als ich mich schließlich umdrehte und Eli sah. Er saß still an der gegenüberliegenden Wand. Schon bei seinem ersten Besuch war er ziemlich depressiv erschienen, aber jetzt — zehn Minuten später? eine halbe Stunde später? — machte er den Eindruck völliger Auflösung. Niedergeschlagene Augen, herabhängende Schultern. „Ich verstehe einfach nicht“, sagte er dumpf, „wie diese Beichte irgendeinen Wert haben sollte, ob real, symbolisch, metaphorisch oder sonstwie. Ich glaubte, ich hätte es begriffen, als Bruder Javier das erste Mal zu uns darüber sprach. Aber jetzt bekomme ich einfach keinen Sinn hinein. Warum? Warum?“

„Weil sie es verlangen“, sagte ich.

„Was hat das damit zu tun?“

„Es ist eine Frage des Gehorsams. Aus dem Gehorsam erwächst die Disziplin, aus der Disziplin die Kontrolle und aus der Kontrolle die Kraft, die Mächte des Verfalls zu besiegen. Gehorsam ist Anti-Ungewißheit, Ungewißheit unser Feind.“

„Wie zungenfertig du bist“, sagte er.

„Zungenfertigkeit ist keine Sünde.“

Er lachte und gab keine Antwort. Ich bemerkte, daß er an einer Grenze stand, daß er sich auf dem rasiermesserscharfen Grat zwischen Gesundheit und Wahnsinn bewegte. Und ich, der ich mein ganzes Leben lang auf diesem Grat entlanggeschritten war, wollte nicht derjenige sein, der ihn in den Abgrund stieß. Die Zeit verging. Meine Vision wich von mir, und Oliver verblaßte und wurde unwirklich. Ich hegte deswegen keinen Groll gegen Eli; dies war seine Nacht. Endlich erzählte er mir von einem Essay, den er mit sechzehn Jahren geschrieben hatte, in seinem letzten Jahr auf der High School. Einen Essay über den moralischen Zusammenbruch des Weströmischen Reiches anhand der Degeneration des Lateins in die verschiedenen romanischen Sprachen. Er konnte sich selbst jetzt noch an eine ganze Menge von dem erinnern, was er damals geschrieben hatte. Er trug längere Passagen daraus vor, und ich hörte nur halb hin, gewährte ihm das höfliche Vorgeben von Höflichkeit, aber nicht mehr. Denn obwohl sich der Essay in meinen Ohren brillant anhörte — eine bemerkenswerte Arbeit für einen Wissenschaftler jeden Alters und ganz bestimmt erstaunlich für einen sechzehnjährigen Jungen —, hatte ich in diesem Moment auch nicht die leiseste Lust, etwas über die ethischen Implikationen zu hören, die in den Entwicklungsmustern des Französischen, Spanischen und Italienischen zu finden waren. Aber mit der Zeit verstand ich immer mehr Elis Motive, mir diese Geschichte zu erzählen, und ich schenkte ihm mehr Aufmerksamkeit. Ganz offensichtlich beichtete er mir. Denn er hatte den Essay für einen Wettbewerb geschrieben, der von einer angesehenen Bildungsgesellschaft ausgerichtet worden war. Eli hatte gewonnen und dafür ein großzügiges Stipendium erhalten, das ihm den Besuch am College ermöglichte. Eigentlich lag seine ganze akademische Karriere in dieser Arbeit begründet, denn sie war in einer führenden philologischen Zeitschrift abgedruckt worden und hatte ihn zu einer gefeierten Persönlichkeit in diesem Zweig der Wissenschaft gemacht. Die Türen aller Bibliotheken standen ihm offen; er hätte sicher keine Möglichkeit gehabt, jenes gewisse Manuskript zu finden, das uns zum Haus der Schädel geführt hatte, wenn er nicht diesen meisterlichen Essay geschrieben hätte, auf den sich sein Ruhm gründet. Und — so erklärte er mir im gleichen ausdruckslosen Tonfall, in dem er kurz zuvor unregelmäßige Verben erläutert hatte — das grundlegende Konzept seiner Essays war nicht auf seinem Mist gewachsen. Er hatte es gestohlen.

Na also! Die Sünde von Eli Steinfeld! Keine unbedeutende sexuelle Verfehlung, keine jugendlichen Abenteuer wie Unzucht oder gegenseitiges Masturbieren, kein Inzest daheim mit der sich nur schwach wehrenden Mutter, sondern ein intellektuelles Verbrechen; das schlimmste von allen. Kein Wunder, daß er davor zurückschreckte, es zuzugeben. Doch jetzt strömte die ganze belastende Wahrheit heraus. Sein Vater, sagte er, aß eines Nachmittags in einem Automatenrestaurant auf der Sixth Avenue zu Mittag und bemerkte einen kleinen, grauen, verwelkten Mann, der allein dasaß und ein dickes, unhandliches Buch studierte. Es war eine altertümliche Ausgabe über linguistische Analyse, Sommerfelts Diachrone und synchrone Aspekte der Sprache. Der Titel hätte Vater Steinfeld normalerweise nichts gesagt, hätte er nicht unlängst 16,50 Dollar herausgerückt, keine unbedeutende Summe für Familie Steinfeld, um das gleiche Buch für Eli zu kaufen, der glaubte, ohne das Buch nicht mehr leben zu können. Dann der Schock des Wiedererkennens, als er das schwere Buch sah. Der elterliche Stolz wallte auf: Mein Sohn ist Philologe. Man stellte sich gegenseitig vor. Konversation. Übergangslos eine freundschaftliche Beziehung; ein älterer Auswanderer hat von einem anderen in einem Automatenrestaurant nichts zu befürchten. „Mein Sohn“, sagte Mr. Steinfeld, „liest das gleiche Buch!“ Ausdruck der Freude. Der andere stammt aus Rumänien und war früher Professor für Linguistik an der Universität von Cluj; 1939 war er geflohen und hoffte, nach Palästina zu gelangen. Aber statt dessen gelangte er auf mehreren Umwegen über die Dominikanische Republik, Mexiko und Kanada in die Vereinigten Staaten. Hier kann er an keiner Hochschule eine Stelle bekommen und lebt in ziemlicher Armut in der Manhattan Upper West Side. Er nimmt jeden Job an, den er finden kann: Tellerwäscher in einem chinesischen Restaurant, Korrektor einer kurzlebigen rumänischen Zeitung, er bediente einen Vervielfältigungsapparat in einer Vermißtenstelle und so weiter. Und währenddessen hat er immer fleißig an seinem Lebenswerk gearbeitet, einer strukturellen und philosophischen Analyse des Zerfalls des Lateins im Frühmittelalter. Das Manuskript steht jetzt, im Moment allerdings gänzlich in Rumänisch geschrieben, erklärte er Elis Vater, aber er hat schon mit der unvermeidlichen Übersetzung ins Englische begonnen. Doch diese Arbeit kommt nur langsam voran, denn er ist des Englischen nicht besonders mächtig, und in seinem Kopf wimmelt es von allen möglichen Sprachen. Er träumt davon, das Werk zu vollenden, einen Verleger zu finden und sich vom Honorar in Israel zur Ruhe zu setzen. „Ich würde Ihren Jungen gerne kennenlernen“, sagte der Rumäne unvermittelt. Sofort steigt Argwohn in Elis Vater hoch. Ist dieser Mann ein Perverser? Einer, der Kinder streichelt und belästigt? Nein! Das ist ein ehrenwerter Jude, ein Wissenschaftler, ein Melamed, ein Mitglied der internationalen Kameradschaftsvereinigung der Opfer; wie könnte so einer Eli etwas Böses wollen? Eli geht zur Wohnung des Rumänen: nur ein kleines Zimmer, vollgestopft mit Büchern, Manuskripten, wissenschaftlichen Fachzeitschriften in einem Dutzend verschiedener Sprachen. Hier, lies das, sagte der würdige Mann, und dies und das und jenes, meine Essays, meine Theorien; und er stapelt Papierstöße auf Elis Hände: hauchdünne Blätter, eng betippt, ohne Absätze, ohne Seitenrand. Eli geht wieder nach Hause, liest, und sein Verstand droht gesprengt zu werden. Lieber Himmel, dieser kleine alte Mann hat da etwas ganz Wahnsinniges produziert! Begeistert entschließt sich Eli dazu, Rumänisch zu lernen, um für seinen neuen Freund den Sekretär zu machen, um ihm zu helfen, sein Meisterwerk so rasch wie möglich zu übersetzen. Eifrig planen die beiden, der Junge und der alte Mann, eine Zusammenarbeit. Sie errichten Traumschlösser. Eli fotokopiert aus eigener Tasche die Manuskripte, damit nicht irgendein Goy in der Nachbarwohnung dadurch, daß er mit einer brennenden Zigarette einschläft, gedankenlos einen Brand legt und damit ein Lebenswerk voller wissenschaftlicher Arbeit vernichtet. Jeden Tag eilt Eli nach der Schule in das kleine, überfüllte Zimmer. Dann, eines Nachmittags, öffnet niemand auf sein Klopfen. Wie furchtbar! Der Hauswirt wird herbeigerufen, er brummt, stinkt nach Alkohol; mit seinem Passepartout öffnet er die Tür; drinnen liegt der Rumäne mit gelbem Gesicht und steifem Körper. Eine Flüchtlingsgesellschaft bezahlt die Beerdigung. Ein Neffe, der seltsamerweise früher nie erwähnt wurde, erscheint und schleppt jedes Buch und jedes Manuskript in ein ungewisses Schicksal ab. Eli bleibt mit den Fotokopien zurück. Was nun? Wie kann er das Vehikel sein, über welches dieses Werk der Menschheit zugänglich gemacht wird? Ah, ja, der ‚Jugend forscht’-Wettbewerb um ein Stipendium. Wie besessen sitzt Eli an seiner Schreibmaschine, Stunde um Stunde. Der Unterschied zwischen ihm und seinem vergangenen Bekannten verwischt sich in Elis Kopf. Jetzt arbeiten sie wirklich zusammen; durch mich, glaubt Eli, spricht dieser große Mann aus seinem Grab. Der Essay ist fertiggestellt, und Eli zweifelt überhaupt nicht an dessen Bedeutung; er ist ganz einfach ein Meisterwerk. Darüber hinaus hat Eli das besondere Vergnügen zu wissen, daß er das Lebenswerk eines zu Unrecht unbekannten Wissenschaftlers geborgen hat. Er schickt die vorgeschriebenen sechs Bögen zum Wettbewerb ein. Im Frühjahr kommt das Einschreiben, das ihn davon in Kenntnis setzt, er habe gewonnen. Eli wird in eine Marmorhalle eingeladen, um dort eine Urkunde zu erhalten und einen Scheck über mehr Geld, als er sich das je hat vorstellen können; und er erhält begeisterte Glückwünsche von etlichen anerkannten Hochschulen. Wenig später schon erreicht ihn die erste Anfrage von einer Fachzeitschrift nach einem Beitrag. Seine Karriere hat begonnen. Erst später bemerkt Eli, daß er in seinem triumphalen Essay irgendwie total vergessen hat, den eigentlichen Autor zu würdigen, auf dem seine Thesen basierten.