Kanaschnikow drehte sich wieder zu mir, traurig seufzend kraulte er sich den Bart.
»Vorläufig müssen wir mit der pharmakologischen Kur fortfahren«, sagte er. »Ich verhehle nicht, daß ich dies als eine Niederlage betrachte – eine kleine Niederlage, aber immerhin. Ich finde, ein guter Psychiater sollte ohne Medikamente auskommen, weil die … Wie soll ich sagen … Es ist Kosmetik. Sie lösen die Probleme nicht, sie verhindern höchstens, daß Außenstehende Einblick bekommen. Doch in Ihrem Fall habe ich einfach keine bessere Idee. Ich brauchte Ihre Hilfe. Um jemanden vor dem Ertrinken zu retten, reicht es nicht, daß man ihm die Hand hinhält – er muß sie auch ergreifen.«
Hinter mir ging die Tür auf, ich hörte leise Schritte. Die zarten Finger einer Frau griffen nach meiner Schulter, und ich spürte, wie ein kalter kleiner Stachel den Stoff der Zwangsjacke durchbohrte und in meine Haut drang.
»Übrigens«, sagte Kanaschnikow, während er sich fröstelnd die Hände rieb, »im Klapsmühlenjargon gibt es den Ausdruck ›Exekution‹ tatsächlich – aber nicht für das, was wir Ihnen momentan spritzen, die normale Mischung Aminasin-Pervitin, sondern das sogenannte Sulfasin-Kreuz, also vier Injektionen in … Na, ich hoffe, so weit wird es nicht kommen.«
Ich unternahm gar nicht erst den Versuch, mich umzudrehen und der Frau, die mir die Spritze gab, ins Gesicht zu sehen. Ich fixierte den blau-rot-weißen Mann auf dem Plakat, und als er endlich zurückschaute, ein Lächeln und ein Blinzeln wagte, erklang von weit her die Stimme des Professors:
»Jawohl, gleich in den Trakt. Der stört schon nicht. Das Zeug hat ja doch eine gewisse Wirkung. Und außerdem sitzt er bald selber auf dem Stuhl.«
Irgendwelche Hände (vielleicht waren es wieder Sherbunow und Barbolin) rissen mir die Zwangsjacke vom Leib und hievten mich wie einen Sandsack auf eine Art Trage. Der Türpfosten schwebte an mir vorüber, dann waren wir wieder auf dem Flur.
Mein taub gewordener Körper wurde an hohen, weißen Türen mit Nummern entlanggeschoben, hinter mir schwatzten und lachten mit entstellten Stimmen die zwei verkleideten Matrosen – ich glaube, es ging um Frauen, über die sie schamlos herzogen. Dann sah ich das über mich gebeugte Gesicht des Professors, der offenbar neben mir herlief.
»Wir legen Sie wieder auf Abteilung III, ist Ihnen das recht? Wenn ich mich recht entsinne, ist Puschkin auch von der III. Abteilung überwacht worden.« Kanaschnikow lachte zufrieden. »Da liegen derzeit vier Mann, mit Ihnen also fünf. Schon mal was von der Gruppentherapie nach Professor Kanaschnikow gehört? Das bin nämlich ich!«
»Nein«, stieß ich mühsam hervor.
Das Vorüberziehen der vielen verschwommenen Türen wurde unerträglich, ich schloß die Augen.
»Es ist, schlicht gesagt, der kollektive Kampf der Patienten um ihre Genesung. Sie müssen sich das so vorstellen: Ihre Probleme werden vorübergehend zum Gemeingut, das heißt, jeder der Sitzungsteilnehmer hat eine bestimmte Zeit lang das gleiche Befinden wie Sie, identifiziert sich sozusagen mit Ihnen. Was glauben Sie, wohin das führt?«
Ich gab keine Antwort.
»Ganz einfach«, fuhr Kanaschnikow fort. »Nach Beendigung der Sitzung tritt ein Rückstoßeffekt ein. Die Teilnehmer ziehen sich geschlossen aus der eben noch als Realität empfundenen Situation zurück. Es ist, wenn Sie so wollen, die Verwendung des menschlichen Herdentriebs zu medizinischen Zwecken. Die Beteiligten mögen noch so sehr von Ihren Ideen und Stimmungen gefangen gewesen sein – sobald die Sitzung zu Ende ist, kehren sie zu ihren eigenen Manien zurück und lassen Sie mutterseelenallein sitzen. Und in diesem Augenblick – vorausgesetzt, der kathartische Aufschluß des pathologischen Psychomaterials ist gelungen – vermag der Patient die Relativität seiner krankhaften Vorstellungen selbst zu empfinden und die Identifizierung damit aufzugeben. Von da ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Genesung.«
Vom Sinn dieser Ausführungen (so es einen gab) verstand ich nicht allzu viel, auch wenn das eine oder andere davon im Bewußtsein hängenblieb. Die Injektion wirkte zunehmend. Ich konnte meine Umgebung schon nicht mehr erkennen, der Körper war praktisch empfindungslos und die Seele in schwerem, dumpfem Gleichmut versunken. Das Unangenehmste an alledem war, daß nicht ich, sondern ein anderer es zu sein schien, dem dies passierte und der auf das gespritzte Präparat reagierte. Und dieser andere, so ahnte ich mit Grauen, ließ sich tatsächlich kurieren.
»Was dachten denn Sie!« sagte Professor Kanaschnikow wie zur Bestätigung. »Das schaffen wir schon, keine Bange. Und überhaupt, vergessen Sie das Wort ›Irrenhaus‹. Nehmen Sie's als nettes Abenteuer. Das dürfte Ihnen als Literat doch nicht schwerfallen. Wirklich, was einem hier manchmal zu Ohren kommt, möchte man direkt aufschreiben. Die Gruppensitzung mit Maria, die gleich anfängt, die wird zum Beispiel sehr interessant. Ich nehme an, Sie wissen noch, wer das ist?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Na, hätte ich mir denken können«, sagte er. »Ist jedenfalls eine äußerst interessante Geschichte. Ein Psychodrama von shakespeareschem Format, würde ich behaupten. Da kollidieren äußerlich völlig verschiedene Bewußtseinsinhalte miteinander: mexikanische Seifenoper, Hollywood-Thriller und die ungefestigte russische Demokratie. Die mexikanische Fernsehserie ›Sagen Sie einfach Maria‹ ist Ihnen doch wenigstens ein Begriff? Nicht mal die? Verstehe. Na, kurz gesagt, hier hält sich jemand für die Hauptfigur, besagte Maria. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, aber es kommt noch eine unbewußte Identifikation mit Rußland hinzu. Plus analdynamischer Agamemnon-Komplex. Also eine lupenreine Pseudopersönlichkeitsspaltung. Ganz mein Fall.«
Mein Gott, dachte ich, was für lange Flure die hier haben.
»Zu einer vollwertigen Teilnahme an der Sitzung werden Sie natürlich nicht in der Lage sein«, tönte Kanaschnikows Stimme schon wieder. »Sie dürfen ruhig schlafen. Aber vergessen Sie nicht, daß Sie demnächst selbst an der Reihe sein werden.«
Wir schienen nun irgendwo hineinzufahren: Eine Tür quietschte, und ich hörte, wie eine Unterhaltung, die dort im Gang war, abbrach. Professor Kanaschnikow grüßte in die Finsternis, etliche Stimmen antworteten ihm. Währenddessen wurde ich auf ein unsichtbares Bett gelegt, ein Kissen kam unter meinen Kopf, eine Decke obenauf. Eine Zeitlang lauschte ich den an mein Ohr dringenden Phrasen (der Professor erklärte irgendwem, warum ich so lange nicht dagewesen war), dann schaltete ich vollständig ab, da mich eine außerordentlich bedeutungsvolle Halluzination privater Natur heimsuchte.
Ich weiß nicht, wie lange ich allein mit meinem Gewissen zubrachte, ehe plötzlich wieder die monotone Stimme des Professors meine Aufmerksamkeit auf sich zog.
»Schauen Sie genau auf diese Kugel, Maria. Sie sind vollkommen ruhig. Sollte Ihr Mund trocken sein, ist das die Wirkung des Ihnen verabreichten Präparats und wird schnell wieder vergehen. Hören Sie mich?«
»Ja«, erwiderte eine Stimme, die eher einem hohen Tenor nahekam als einem tiefen Alt.
»Wer sind Sie?«
»Maria«, antwortete die Stimme.
»Ihr Nachname?«
»Sagen Sie einfach Maria.«
»Wie alt sind Sie?«
»Schätzungsweise achtzehn«, sagte die Stimme.
»Wissen Sie, wo Sie sich befinden?«
»Ja. In der Klinik.«
»Und weshalb sind Sie hier?«
»Wegen dem Aufprall, was dachten denn Sie! Ist ja ein Wunder, daß ich überhaupt noch am Leben bin. Nie hätte ich gedacht, daß er ein so schlechter Mensch ist.«
»Wogegen sind Sie denn geprallt?«
»Gegen den Moskauer Fernsehturm.«
»Ach. Wie ist denn das passiert?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Macht nichts«, sagte der Professor in nettem Ton, »wir haben keine Eile. Erzählen Sie ruhig, wir hören zu. Wie hat das Ganze angefangen?«