»Ist das nicht großartig?!«
Cally zuckte zusammen, fuhr in die Höhe und sah sich um, sah ihn hinter sich stehen und grinste ihm vergnügt zu.
Mein Gott, der hat sich tatsächlich von hinten an mich angeschlichen? Ich muss echt sauer sein. Awesome God! Wirklich schrecklich. Sie unterdrückte einen Seufzer. Okay, langweilige, sich ständig wiederholende, einem die Trommelfelle zerreißende Musik ist kein hinreichender Grund für Totschlag. Aber, verdammt noch mal, eigentlich sollte sie das sein. Die sollten die Regeln ändern. Verdammter Mist. Das verdammte Hotel ist mir da letztlich doch tausendmal lieber.
»Ist fabelhaft, aber ich muss gehen.« Sie versuchte verzweifelt, ihm eine plausible Ausrede aufzutischen. »Mir ist gerade eingefallen, dass meine Großmutter Geburtstag hat, und ich habe versprochen, dass ich sie anrufe.« Sie lächelte Nachsicht heischend und stand auf, nahm ihr Bier mit, als sie sich den Weg durch die Menge zur Tür bahnte, bloß weg von diesem schrecklichen Lärm.
Natürlich folgte er ihr nach draußen.
»Wirklich schade, dass du gehen musst. Wir hatten doch solchen Spaß zusammen. Was ist, darf ich dich zu deinem Wagen bringen, oder so?«
»Ich bin mit dem Zug da.«
Seine Gesichtszüge entgleisten ihm leicht, hellten sich aber schnell wieder auf. »Das ist auf der anderen Straßenseite. Ich komme mit. Ein hübsches Mädchen wie du sollte nach Einbruch der Dunkelheit nicht allein an einem Stützpunktort sein. Besonders am Wochenende. Ich meine, ich hoffe, dass dich niemand belästigen würde, aber du weißt ja, Matrosen …« Er verstummte, ging neben ihr bis zur Kreuzung und sah sich nach beiden Seiten um, ob die Straße frei war.
Auf dem Parkplatz des Bahnhofs gab es ein paar dunkle Stellen, wo eine Lampe ausgebrannt und nicht ersetzt worden war, darunter auch eine bei einem kleinen Gebüsch. Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu, als sie daran vorbeikamen, nahm seine Hand und zog ihn in den Schatten.
Eine Weile später kamen sie wieder heraus und setzten den kurzen Weg zum Zug fort. Sein Arm lag jetzt über ihrer Schulter, und er küsste sanft ihr Haar, bemühte sich, die kurze Strecke Weges möglichst in die Länge zu ziehen.
Cally konzentrierte sich ganz darauf, normal zu gehen. Na ja, das war totale Zeitvergeudung. Trotzdem lehnte sie sich an ihn und lächelte süß. Es hatte ja keinen Sinn, sich etwas anmerken zu lassen. Sagen wir viereinhalb auf einer Skala von eins bis zehn. Dieser seltsam metallische Schweißgeruch ist … ganz und gar nicht erotisch. Und sein Mund, der ihm die halbe Zeit offen stand wie bei einem Fisch, war das auch nicht. Na ja, das sollte heute Abend eben nichts werden. Dabei sah er ganz nett aus …
»Wenn ich, äh … deine Telefonnummer hätte, könnte ich, äh … du weißt schon, in Verbindung bleiben«, erbot er sich mit einem hoffnungsvollen, albernen Lächeln.
»Gern, hast du einen Stift?« Sie rasselte eine Nummer herunter, die der Vorwahl nach aus Chicago stammen konnte, und küsste ihn leidenschaftlich, ehe sie ihre Marke in den Schlitz schob und durch das Drehkreuz ging. Als sie eine passende Stelle auf dem nur schwach besetzten Bahnsteig suchte, konnte sie das Kreischen der Bremsen eines ankommenden Zugs hören. Der Zug hielt rasselnd an, und als die Türen aufgingen, stieg sie ein und fand einen Sitzplatz. Sie sah sich nicht um.
Erst halb elf, stellte sie nach einem Blick auf die Uhr fest. Na ja, egal, Schlaf ist gesund.
Sonntag, 19. Mai
Um drei Uhr morgens hinauszufahren, um sich einen Download von ihren Kameras zu holen, machte nicht gerade Spaß. Zu wissen, dass sie gerade nahe genug heranfahren musste, um den Download auf Sichtweite vorzunehmen, dann zum Hotel zurückzukehren und dort zu Bett zu gehen, machte es nicht leichter. Das lohnte nicht einmal eine Tasse Kaffee aus einem Schnellimbiss. Etwa eineinhalb Stunden, nachdem sie ihr Zimmer verlassen hatte, kroch sie ins Bett zurück und wälzte sich dann gute zwei Stunden auf dem zu weichen Kopfkissen und der durchgelegenen Matratze herum, ehe sie schließlich wieder einschlief.
Als sie am frühen Nachmittag aus dem Bett taumelte, hatte sie einen Geschmack im Mund, der sie an Klebstoff und den Inhalt eines Aschenbechers erinnerte. Nach einer Dusche und Kaffee aus der Kaffeemaschine in ihrem Zimmer holte sie einen Beutel Studentenfutter aus dem Koffer und mampfte das Zeug, während sie die Kameraausbeute mit ein paar Suchfiltern auf Szenen einkürzte, auf denen Menschen oder fahrende Fahrzeuge zu sehen waren. Das Ergebnis sah sie sich auf dem Fernseher in ihrem Zimmer an und gab unterdessen eine Mustergrafik auf ihrem PDA ein. Unglücklicherweise war das System zu lange eingeschaltet gewesen und stürzte deshalb ab. Sie fand irgendwo eine Büroklammer und bog sie auf, um an den Resetknopf zu kommen, schnitt dem schreienden Gesicht auf dem Bildschirm eine Grimasse, als das System bootete, und wartete dann ungeduldig, während das Gesicht erstarrte und nach einer Weile verschlafen die Augen aufschlug. »Guten Morgen … okay, dann eben schönen Nachmittag … ich bin dein Buckley, und ich weiß jetzt schon, dass das ein schlimmes Ende nehmen wird.«
»Okay, Buckley, Stimmzugang abschalten.«
»Was? Dann bin ich doch stumm! Du würdest mir doch das nicht antun, oder?«
»Buckley, Stimmzugang abschalten.«
»Ich sehe schon, du verstehst keinen Spaß. Pfft!« Das Gesicht verabschiedete sich mit einem unflätigen Geräusch von ihr, ehe es verstummte und in die Leiste unten am Bildschirm einschrumpfte. »Okay, ganz wie du willst, lässt dir ja doch nichts einreden. Was nun?«
Sie kritzelte in das Eingabefeld und sah, wie ihre Befehle unter der Bildschirmausgabe des PDA auftauchten. »Gesichtssimulation abstellen.«
»Yeah, na ja, bist ja selbst auch nicht so hübsch«, huschte es über den Bildschirm, sichtlich verärgert, zuckte dann aber ganz oben auf den leeren Bildschirm.
»KI-Emulation auf Level zwei einstellen.«
»Was? Hör zu, du Schlampe, als ob ich nicht schon genug Ärger hätte! Zuerst hängst du mir einen Maulkorb um, dann knallst du mir die Tür vor der Nase zu und dann noch eine Lobotomie … bereit zur Befehlseingabe.«
Sie tippte den Okay-Button und rief dann wieder das Video auf, um es über die improvisierte Labelverbindung auf den Fernseher zu übertragen, schob es dann in den Hintergrund, rief ihr Musterprogramm auf und seufzte. »Ich hasse Booten.«
»Du hasst Booten!«, scrollte es unten über den Bildschirm.
»Klappe halten, Buckley.« Sie griff sich wieder eine Hand voll Studentenfutter und fuhr fort, die Leerstellen auszufüllen. Die simulierte Persönlichkeit würde Tage brauchen, bis sie wieder schlafen konnte.
In gewisser Weise waren die Samstagsdaten der Kamera nicht sonderlich nützlich, da die Leute am Wochenende gewöhnlich ihre Verhaltensmuster gründlich ändern. Trotzdem musste es sein. Ihre Zimmerkollegin auf der Schule hatte eine Übung geschmissen, bloß weil sie bei ihrer Überwachungsaufgabe nicht aufgepasst und deshalb nicht bemerkt hatte, dass die Zielperson einen Hausgast hatte. Die achtzigjährige, blauhaarige Mutter der Zielperson war plötzlich ins Zimmer geplatzt, als sie gerade damit beschäftigt war, einen Haufen schmutziger Unterwäsche und Socken zu durchwühlen, und hatte sie anschließend die Treppe hinunter und nach draußen geprügelt und ihr dabei lautstark eine Predigt über verkommene Schlampen gehalten. Bei der Abschlussbesprechung hatte sie dann erfahren, dass die Mutter eine verjüngte Agentin mit einem kosmetischen Alterungspaket gewesen war, was die ungewöhnliche Lebhaftigkeit der alten Dame erklärte. Cally sah immer noch Cheryls entsetzten Gesichtsausdruck auf dem Bildschirm der Überwachungskamera, als sie aus dem Haus geflohen war und mit beiden Händen versucht hatte, die Stockschläge der alten Dame abzuwehren.