»Hast du’s bereits zur Erde geschickt?«, fragte der Ältere, als wäre das Bild, das sich ihm bot, die selbstverständlichste Sache der Welt, und stieg über die Leiche, um an das Kommunikationsgerät zu kommen.
»Nein, bis jetzt noch nicht.« Tommy schüttelte den Kopf, wuchtete sich hoch und ließ sich vorsichtig auf einem Sessel nieder.
O’Neal räusperte sich lautstark und tippte ein paar Augenblicke auf den Tasten herum, verschlüsselte die Daten und schickte sie durch ein kompliziertes System von Funkrelais, die sie als dreimal wiederholten Rauschimpuls, eingebettet in ein routinemäßig abgefangenes Stimmsignal, zur Erde schickten.
»Was machen wir mit ihm?«, fragte Tommy und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Leiche.
»Wir legen ihn ins Frachtabteil. Dort ist es hübsch kalt. Da wird er sich schon halten.« Er wühlte in seiner Hemdtasche herum, bis er seinen Tabaksbeutel gefunden hatte. »Man sollte nie eine gut erhaltene Leiche vergeuden, wenn man das vermeiden kann. Schließlich kann man nie wissen, wann man vielleicht eine braucht.«
»Was ist mit Cally?«
»Du hast offensichtlich den Schluss der Nachricht nicht gesehen. Lass für alle Fälle die Motoren warm laufen, aber …« O’Neals Gesicht war völlig ausdruckslos, als er sich den Priem in den Mund steckte und den Beutel in die Tasche zurückschob.
Tommy hob sein AID wieder auf und ließ es die Datei anzeigen, sodass er sie diesmal bis zum Ende und bis hinunter zu dem Code am Schluss lesen konnte, der nach Beurteilung ihres PDA bedeutete, dass die Festnahme des Agenten unmittelbar bevorstand, Rettung oder Flucht unwahrscheinlich war, weitere Sendungen vermutlich kompromittiert.
»Hey, ihr Buckley ist schließlich immer pessimistisch drauf, oder?«, meinte er.
Springfield
Dienstag, 18. Juni, 19:55
Aus der jahrtausendelangen Erfahrung der Bane Sidhe mit den Darhel, die immer wieder jede Art elektromechanischer Datenübertragung abgehört hatten, galten persönliche Treffs als die sichersten, wenn es darum ging, Informationen weiterzugeben, weshalb dies auch Teil der allgemeinen Dienstvorschrift war. Zu Anfang der Zusammenarbeit hatte es nur einiger katastrophaler Verluste in den Rängen der Cybers bedurft, um sie davon zu überzeugen, dass die Klugheit dies erforderte. Eine Konsequenz dieser Vorschrift war, dass Teams wie Hector und Isaac neben ihren üblichen Kommandoeinsätzen auch mit nachrichtendienstlichen Aufträgen betraut wurden, welche die Übernahme körperlicher Berichte von Agenten vor Ort vorsahen.
In Anbetracht der knappen Ressourcen pflegte man dazu das Team wo immer möglich aufzuteilen und jeden Agenten mit einem einzelnen Segment der Route zu betrauen. Um die einzelnen Vorgänge aber wirksam koordinieren zu können, waren auch dabei periodische, persönliche Treffs erforderlich. Bedauerlicherweise hatten nachrichtendienstliche Erkenntnisse die Tendenz, schnell ihren Wert zu verlieren. Derartige Treffs erlaubten es jedem Teammitglied, die Erkenntnisse des gesamten Teams entgegenzunehmen und sie sozusagen stromaufwärts an einen Kurier weiterzuleiten, ehe das jeweilige Mitglied sich wieder seiner Teilaufgabe zuwandte.
Levon mochte das Wexford. Nicht so sehr dieses Pub im Speziellen als vielmehr billige, kleine Kneipen mit gemischtem Publikum, wo einen, solange man nicht laut wurde oder auf den Tischen tanzte, keiner ein zweites Mal ansah. Sie benutzten niemals einen bestimmten Ort öfter als dreimal in zehn Jahren für einen persönlichen Treff, wenn sie das irgendwie vermeiden konnten. Für das Wexford war dies das zweite Mal, dass es dieser zweifelhaften Ehre zuteil wurde.
Er ließ beim Betreten des Lokals automatisch den Blick über die Bar schweifen und katalogisierte im Geiste das Gesehene, während er sich einen leeren Tisch an der Wand aussuchte und sich dort auf einem Stuhl niederließ, der einen ungehinderten Blick auf die Tür ermöglichte. Ein Mann und eine Frau an der Bar, sieht so aus, als würde er versuchen, sie anzubaggern, offensichtlich auch mit Erfolg. Zwei jüngere Gentlemen in einer Nische, beide sehr sportlich wirkend und offensichtlich stark aneinander interessiert. Ein Mann an einem Tisch am Fenster, trinkt alleine, starrt auf die Straße hinaus. Ein Mann und eine Frau in der Nische hinten, ein wenig verstohlen über dem Tisch Händchen haltend. Weg zum Hinterausgang an der Küche vorbei frei.
Eine betont fröhliche Bedienung kam an seinen Tisch, und er bestellte einen Krug Apfelwein und einen Cheeseburger. Okay, auch Junkfood, aber wenigstens ohne Mais und Sojabohnen.
Barry traf vor dem Apfelwein ein und konnte sich deshalb sein Essen bestellen und sich ein kaltes Bier einschenken, wobei er die Speisekarte als Tarnung benutzte, um einen Würfel auf den Tisch zu legen, wo ihn die verschiedenen Gegenstände, die dort herumlagen, vor neugierigen Augen schützten. Levon zündete sich eine Zigarette an und griff sich den Würfel, während er den Aschenbecher zurechtschob. Eigentlich schmeckten ihm die Dinger gar nicht, aber sie waren eine wirklich gute Tarnung, um seine Hände zu bewegen.
Sam kam dicht hinter Barry, ein kleines, sanft gerundetes Mädchen mit mausbraunem Haar, das sich um ihre Ohren ringelte. Er spürte, wie ihr Würfel in seine Jackentasche fiel, als sie sich über ihn beugte, um ihm einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange zu geben, ehe sie wieder um den Tisch herumging und sich neben ihn setzte.
Wie nicht anders zu erwarten, verspätete sich George. Nach seinem Schwiegersohn konnte man die Uhr stellen. Wenn er zur Tür hereinkam, war es mit tödlicher Sicherheit zwanzig Minuten nach dem Zeitpunkt, an dem er eigentlich da sein sollte. Er schwor jedes Mal heilige Eide, dass er das nicht absichtlich tat, und hatte für seine Verspätung stets einigermaßen plausible Erklärungen zur Hand. Einzig und allein dann, wenn für den Erfolg des Einsatzes exakte Koordination wirklich unerlässlich war — dann war er pünktlich. Seine Frau machte sich gern darüber lustig. Levon dachte, er ging so in seiner Rolle auf, dass er sich manchmal tatsächlich wie der Teenager verhielt, den er darstellte.
Den ersten Hinweis, dass etwas nicht stimmte, bekam er, als alle, mit Ausnahme der Bedienung und des Barkeepers, gleichzeitig in Bewegung gerieten. Er hatte kaum Zeit, die Würfel in seinen Apfelwein fallen zu lassen, ehe einer von ihnen über ihm war und ihm, während er kurz abgelenkt war, etwas in den Schenkel rammte. Er versuchte seine Pistole unter dem Hemd einzusetzen, aber der Mann schlug sie ihm aus der Hand. Barry und Sam hatten ihren ersten Mann auf dem Boden, bis Levon sich genügend gefangen hatte, um dem seinen das Genick zu brechen. Er bezweifelte, dass ihm das so schnell gelungen wäre, wenn der Mann nicht gezögert hätte, offenbar weil er erwartet hatte, das Zeug, das er ihm injiziert hatte, würde sofort wirken. Das Peitschen von Schüssen verriet ihm, dass mindestens einer seiner Leute zum Schießen gekommen war, aber die zehn Sekunden des Toten arbeiteten gegen sie.
Während er mit der Frau aus der Nische ganz hinten kämpfte, hatte er einen Augenblick Zeit, darüber nachzudenken, dass es sich bei dem Inhalt der Spritze um etwas handeln musste, was seine Nanniten Gott sei Dank sofort neutralisieren konnten. Diese Frau war nicht schlecht, aber sie hatte nicht die Kräfte modifizierter weiblicher Bane-Sidhe-Agenten. Nach Jahren des Trainings mit Agentinnen und Agenten in der Halle und mit Männern im Feld vergaß man nur zu leicht, wie schwach es bei unmodifizierten Frauen doch um ihre Oberkörperstärke bestellt war.
Die beiden schwulen Typen, die sich ihr gegen ihn anschlossen, machten einen echten Kampf daraus, und als er die uniformierten Fleet-Strike-Soldaten durch die vorderen und hinteren Türen hereinströmen sah und hörte, während das Barpersonal sich klugerweise hinter die Bar verkrümelt hatte, wusste er, dass dies ein Kampf war, den sie nicht gewinnen konnten. Es waren einfach zu viele. Die Faust, die auf seinen Kopf zuschoss, sah Levon Martin nur für den Bruchteil einer Sekunde lang. Oh, Scheiße …