Durch die Mauer gedämpft, konnte er die Geräusche eines barschen Singsangs und mehrere Explosionen hören. Dann wurden Drakonierstimmen laut, die vor Zorn und Enttäuschung aufschrien.
»Das Armband wird sie eine Zeitlang abwehren«, murmelte Tolpan, »aber nicht lange. Also, wie gelange ich zu ihnen zur anderen Seite des Turmes? Vermutlich komme ich nicht darum herum, bis zur untersten Ebene zurückzugehen.«
Er raste die Stufen hinunter und erreichte wieder den Boden, lief an dem Zimmer vorbei, über das er die Zitadelle betreten hatte, und hastete weiter, bis er auf einen Korridor stieß, der im rechten Winkel zu dem verlief, in dem er gerade gewesen war. Es sah vielversprechend danach aus, daß er zu der entgegengesetzten Seite des Turmes führen könnte, wo Tanis und Caramon eingeschlossen waren.
Plötzlich dröhnte eine weitere Explosion, und dieses Mal erbebte der ganze Turm. Tolpan beschleunigte seine Geschwindigkeit. Als der Kender scharf nach rechts bog, schleuderte er gegen eine Ecke.
Peng! Er prallte in etwas Untersetztes und Dunkles, das mit einem »Wuff« umstürzte.
Der Zusammenstoß ließ Tolpan kopfüber rollen. Er lag still da und hatte den Eindruck – vom Geruch her —, daß er von einem verwesenden Abfallhaufen erschlagen worden war. Trotzdem gelang es ihm, zwar etwas benommen, auf seine Füße zu taumeln. Er zog sein kleines Messer, bereit, sich gegen diese kleine, dunkle Kreatur zu verteidigen, die auch schon wieder auf den Beinen war.
Während sie eine Hand an ihre Stirn legte, sagte die Kreatur mit schmerzerfüllter Stimme: »Ooh.« Dann schaute sie sich benommen um und sah Tolpan vor sich stehen, der grimmig und entschlossen dreinblickte. Das Fackellicht blitzte auf der Messerklinge des Kenders. Das »Ooh« verwandelte sich in ein »Aah«. Mit einem Stöhnen brach die stinkende Kreatur ohnmächtig zusammen.
»Ein Gossenzwerg!« sagte Tolpan und zog vor Abscheu seine Nase kraus. Er steckte sein Messer wieder ein und wollte seinen Weg fortsetzen. Doch dann hielt er ein. »Weißt du, trotz allem«, sagte er zu sich, »könnte das gelegen kommen.« Tolpan bückte sich, packte den Gossenzwerg an einer Handvoll Fetzen und schüttelte ihn. »He, wach auf!«
Mit einem zitternden Atemzug schlug der Gossenzwerg seine Augen auf. Als er einen Kender erblickte, der sich mit strenger Miene bedrohlich über ihn beugte, wurde er leichenblaß, schloß eilig wieder seine Augen und gab vor, ohnmächtig zu sein.
Tolpan schüttelte das Bündel noch einmal.
Mit zitterndem Seufzer öffnete der Gossenzwerg ein Auge und sah Tolpan immer noch dastehen. Es blieb ihm nur noch eins übrig – tot auszusehen. Das erreichen die Gossenzwerge, indem sie den Atem anhalten und unverzüglich steif und starr werden.
»Nun komm schon«, redete Tolpan auf ihn ein und schüttelte ihn. »Ich brauche deine Hilfe.«
»Du gehen weg«, erklärte der Gossenzwerg mit tiefer Grabesstimme. »Ich tot.«
»Du bist noch nicht tot«, widersprach Tolpan mit der schrecklichsten Stimme, die er aufbieten konnte, »aber das wirst du gleich sein, falls du mir nicht hilfst!« Er zückte sein Messer.
Der Gossenzwerg schluckte und richtete sich schnell auf. Er kratzte sich verwirrt am Kopf. Als er dann Tolpan erblickte, warf er seine Arme um den Kender. »Du heilen! Mich zurück von den Toten holen! Du großer und mächtiger Kleriker!«
»Nein, bin ich nicht!« schnappte Tolpan, über diese Reaktion einigermaßen verblüfft. »Jetzt laß mich los. Nein, du verhedderst dich mit dem Beutel. Nicht so...«
Nach einiger Zeit gelang es ihm, sich des Gossenzwergs zu entledigen. Tolpan zog die Kreatur hoch und funkelte sie streng an. »Ich versuche, auf die andere Seite des Turms zu kommen. Ist das der richtige Weg?«
Der Gossenzwerg starrte nachdenklich in beide Richtungen des Korridors, dann wandte er sich an Tolpan. »Das richtiger Weg«, sagte er schließlich und zeigte in die Richtung, auf die Tolpan zugesteuert war.
»Gut!« Tolpan wollte sich wieder in Bewegung setzen.
»Welcher Turm?« brummte der Gossenzwerg und kratzte sich am Kopf.
Tolpan hielt an. Er drehte sich um und funkelte den Gossenzwerg an. Seine Hand fuhr zu seinem Messer.
»Ich gehen mit großem Kleriker«, bot der Gossenzwerg eilig an. »Ich führen.«
»Das ist vielleicht keine schlechte Idee«, überlegte der Kender. Er packte den Gossenzwerg an einer schmuddeligen Hand und zog ihn mit sich. Sie fanden bald eine weitere Treppe, die nach oben führte. Die Kampfgeräusche waren jetzt viel lauter – als er sie hörte, riß der Gossenzwerg die Augen weit auf.
Er versuchte, seine Hand zurückzuziehen. »Ich einmal tot«, schrie der Gossenzwerg und versuchte hektisch, sich zu befreien. »Wenn du zweimal tot, stecken sie dich in Kiste, werfen dich in großes Loch. Mir nicht gefallen.«
Obgleich das ein interessanter Gedanke schien, hatte Tolpan keine Zeit, ihn weiterzu verfolgen. Er packte den Gossenzwerg noch fester mit der Hand und zerrte ihn weiter die Stufen hoch. Die Kampfgeräusche auf der anderen Seite der Mauer wurden bei jedem Schritt lauter. Wie auf der anderen Seite des Turms endete auch hier die steile Treppe an einer Tür. Dahinter konnte er Schläge und Ächzen und Caramons Flüche hören. Tolpan probierte den Türgriff aus. Aber diese Tür war verschlossen. Der Kender lächelte und rieb seine Hände.
»Gewiß eine gutgebaute Tür«, sagte er, während er sie musterte. Er bückte sich und spähte durch das Schlüsselloch. »Ich bin hier!« schrie er.
»Öffne die« – gedämpfte Schreie – »Tür!« brüllte Caramon dröhnend.
»Ich tue mein Bestes!« kreischte Tolpan verärgert. »Ich habe mein Werkzeug nicht dabei, weißt du. Nun, ich werde eben improvisieren. Du – bleib hier!« Er packte den Gossenzwerg, der sich gerade die Stufen zurückschleichen wollte. Er zückte sein Messer und hielt es ihm drohend entgegen. Der Gossenzwerg brach zu einem Häuflein zusammen.
»Ich bleiben!« wimmerte er und kauerte sich auf den Boden.
Tolpan wandte sich wieder der Tür zu, steckte die Spitze des Messers in das Schloß und begann es sorgfältig umzudrehen. Er glaubte fast zu fühlen, wie das Schloß nachgab, als plötzlich etwas gegen die Tür stieß. Das Messer sprang mit einem Ruck aus dem Schloß.
»Du hilfst mir nicht gerade!« schrie er durch die Tür. Mit einem Seufzer steckte Tolpan das Messer wieder in das Schloß.
Der Gossenzwerg kroch näher und starrte Tolpan von unten her an. »Viel du wissen. Ich vermuten, du nicht so großer Kleriker.«
»Wie meinst du das?« brummte Tolpan, der sich auf seine Arbeit konzentrierte.
»Messer öffnen keine Tür«, erklärte der Gossenzwerg mit unermeßlichem Abscheu. »Schlüssel öffnen Tür.«
»Ich weiß, daß man eine Tür mit einem Schlüssel öffnet«, sagte Tolpan und schaute sich aufgebracht um, »aber ich habe keinen – gib mir das!«
Tolpan schnappte wütend nach dem Schlüssel, den der Gossenzwerg plötzlich in seiner Hand hielt. Er steckte den Schlüssel in das Türschloß, hörte es klicken und riß die Tür auf. Tanis stolperte regelrecht über den Kender hinaus, Caramon lief hinter ihm her. Der große Mann schlug die schwere Tür zu und brach dabei noch die Schwertspitze eines Drakoniers ab, der gerade durch die Tür treten wollte. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür, sah auf Tolpan herab und atmete schwer.
»Verschließ sie!« konnte er mühsam ausstoßen.
Schnell drehte Tolpan den Schlüssel wieder um. Hinter der Tür hörte man Schreie und weitere Aufschläge und das Geräusch von splitterndem Holz.
»Sie wird wohl eine Weile halten«, sagte Tanis, als er die Tür musterte.
»Aber nicht lange«, entgegnete Caramon grimmig, »besonders nicht bei diesem Bozak-Magier. Laßt uns verschwinden.«
»Aber wohin?« fragte Tanis und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Er blutete aus einer Wunde an der Hand und zahlreichen Schnittwunden an den Armen, aber ansonsten schien er unverletzt. Caramon war mit Blut beschmiert, aber das meiste war grün, und daraus schloß Tolpan, daß es vom Feind stammte. »Wir haben immer noch nicht herausgefunden, wo die Vorrichtung ist, die dieses Ding am Fliegen hält!«