»Wenn diese Reise noch lange dauert, bringen wir ihn nicht mehr lebend zu dem maurischen Arzt.«
»Morgen bei Sonnenuntergang«, versicherte Josse darauf, »müssen wir die Türme von Coca sehen.«
Und tatsächlich, als am anderen Tag die Sonne sich in einem herrlichen Strahlenglanz von Gold und Purpur dem Horizont zuneigte, entdeckte Cathérine das mythische Schloß des Erzbischofs von Sevilla. Sein Anblick verschlug ihr einen Augenblick den Atem: Jäh aus der roten Erde aufragend, als wäre sie ihrem Innern entstiegen, war eine Festung aus blutrot schimmernden Steinen wie ein Palast aus Tausendundeiner Nacht vor ihr aufgetaucht. Phantastisches Juwel der maurischen Baukunst, in den ersten Jahren des Jahrhunderts dem heimwehkranken Hirn eines gefangenen maurischen Architekten entsprungen, hoben sich Türmchen gleich einem Wald von Orgelpfeifen in den fahlen Himmel, dicke Backsteintürme flankierend und mit unerwarteter Anmut die Wucht der doppelten Umwallung und des massiven Schloßturms auflockernd. Es war eher ein Emirpalast als das Domizil eines christlichen Bischofs, doch die Pracht, die es darbot, minderte nicht die Drohung, die es aus seiner Höhe über die von ihm beherrschte Talschlucht auszustrahlen schien. Auf der anderen Seite schloß es sich an ein Plateau an, von dem es jedoch ein tiefer Graben trennte.
Stumm betrachteten Cathérine und Josse das rote Wunder, das vorläufige Ziel ihrer Reise. Bangigkeit befiel flüchtig das Herz Catherines. Gott allein mochte wissen, warum sie sich in diesem Augenblick an einem anderen Ort unter einem anderen Himmel vor einer anderen Festung sah, weniger seltsam vielleicht, aber möglicherweise noch drohender mit ihren glatten schwärzlichen Mauern und schwindelnden Türmen. War es der Ruf der Seltsamkeit Alonso de Fonsecas, der sie vor Coca das Schloß des Seigneurs Blaubart, das großartige und schreckliche Champtocé, wo sie so gelitten hatte, beschwören ließ? Hier hatte sie nichts zu fürchten. Sie wollte nur um Beistand für einen Verwundeten bitten. Dennoch zögerte sie vor diesem Schloß, als ob sich eine unbestimmte Drohung in ihm verberge … Josse wandte den Kopf und sah sie fragend an.
»Nun? Versuchen wir unser Glück?«
Sie hob die Schultern, als wollte sie sich von einer lästigen Bürde befreien.
»Wir haben keine Wahl. Was sollten wir sonst tun?«
»Richtig!«
Und ohne noch ein Wort zu verlieren, setzte Josse seine Pferde wieder in Trab, auf die schmale, winzige Pforte in dem arabischen Spitzbogen zu, der ihr als Rahmen diente. Zwei unbewegliche Posten bewachten sie. Sie schienen in der Zeit und vor diesem Hintergrund erstarrt zu sein. Sie verschmolzen so vollkommen mit der Stille des einsamen Plateaus, daß sie den Eindruck der Fata Morgana verstärkten, den dieses stumme Schloß hervorrief. Einzig das Lilienbanner des Schloßturms bewegte sich leise im schwachen Abendwind und schien zu leben. Zur großen Überraschung Catherines und Josses rührten die Soldaten sich nicht, als der Karren sich ihnen näherte. Und als Josse ihnen in seinem besten Spanisch erklärte, die Edeldame Cathérine de Montsalvy wünsche Seine Hoheit, den Erzbischof von Sevilla, zu sprechen, begnügten sie sich mit einer Kopfbewegung in Richtung des Ehrenhofs, von dessen erstaunlicher und pittoresker Ausstattung die Reisenden bereits einen flüchtigen Blick erhaschten.
»Das ist aber ein schlecht verteidigtes Schloß«, murmelte Josse zwischen den Zähnen.
»Abwarten!« sagte die junge Frau. »Erinnert Euch an die sichtliche Furcht des Bauern, den Ihr vor einer Stunde nach dem Weg gefragt habt. Achtet auf die Stille dieses Schlosses und dieses Dorfes, das ausgestorben scheint. Ich glaube, die Hexerei, von der es heißt, sie wohne hinter seinen Mauern, verteidigt dieses Domizil unendlich viel besser als eine Armee … Und ich frage mich, ob wir wirklich zu einem Gottesmann gehen … oder nicht etwa zum leibhaftigen Teufel?«
Die drückende Atmosphäre wirkte mächtiger auf Cathérine, als sie es sich eingestehen wollte; Josse dagegen war jenseits solcher Besorgnisse.
»An dem Punkt, wo wir jetzt angekommen sind«, brummte er, »sehe ich nicht ein, was wir zu verlieren hätten, wenn wir es uns näher ansehen.«
Der Erzbischof Alonso de Fonseca war so merkwürdig und fremdartig wie sein Schloß, aber viel weniger schön. Klein, mager und verwachsen, glich er einer Pflanze, die ein nachlässiger Gärtner nicht einmal im Traum zu begießen dachte. Sein fahler Teint und seine rotumränderten Augen deuteten an, daß er nicht oft die Sonne sah und durchwachte Nächte bevorzugte.
Er hatte schwarzes, schütteres Haar, einen kümmerlichen Bart, litt außerdem an einem Nervenzucken und schüttelte dauernd den Kopf, was seinen Gesprächspartnern ebenso lästig war wie ihm.
Nach zehn Minuten Unterhaltung hatte Cathérine die größte Lust, es ebenso zu machen. Aber er hatte die schönsten Hände der Welt, und seine tiefe, sanfte Stimme gleich dunklem Samt hatte etwas Bezauberndes.
Er empfing ohne augenscheinliche Überraschung diese große fahrende Dame, deren Troß und Anblick so wenig ihrem Namen und ihrem Stand entsprachen, aber seine Zuvorkommenheit war ohne Fehl. Es war durchaus normal, daß man im Laufe einer langen, beschwerlichen Reise die Gastfreundschaft eines Schlosses oder eines Klosters in Anspruch nahm. Die des Erzbischofs von Sevilla war schon legendär; seine Neugier schien jedoch zu erwachen, als Cathérine von Gauthier und der Pflege sprach, die sie für ihn in Coca zu erlangen hoffte. Seine Neugier war geweckt … und sein Mißtrauen.
»Wer hat Euch denn gesagt, meine Tochter, daß ein ungläubiger Arzt in meinen Diensten sei? Und wie habt Ihr glauben können, daß ein Bischof ihn unter seinem Dach beherberge?«
»Ich habe nichts Außergewöhnliches darin gesehen, Euer Hoheit«, erwiderte Cathérine. »Einst, in Burgund, habe ich selbst mehr als Freund denn als Diener einen großen Arzt gehabt, der aus Córdoba stammte. Und was den betrifft, der mich an Euch verwiesen hat, so ist es der Baumeister der Kathedrale von Burgos.«
»Ah! Meister Hans von Köln! Ein großer Künstler und weiser Mann! Aber erzählt mir noch ein wenig von dem maurischen Arzt, der Euch diente. Wie hieß er?«
»Man nannte ihn Abu al-Khayr.«
Fonseca stieß ein kleines Zischen aus, das Cathérine sofort klarmachte, in welch hohem Ansehen ihr Freund stand.
»Kennt Ihr ihn?« fragte sie.
»Alle einigermaßen aufgeklärten Geister haben von Abu al-Khayr, dem Leibarzt, Freund und Berater des Kalifen von Granada, gehört. Ich fürchte, mein eigener Arzt, so geschickt er auch sei, kommt ihm nicht gleich, und ich bin noch mehr erstaunt, daß Ihr hierhergekommen seid, meine Tochter, statt geradewegs zu ihm zu gehen.«
»Der Weg nach Granada ist weit, und mein Knecht ist sehr krank, Monseigneur. Außerdem, weiß ich denn, ob wir bis zum Königreich des Kalifen durchdringen könnten?«
»Gegen diese Überlegung gibt es nichts einzuwenden.« Den erhöhten Sitz verlassend, auf dem er sich zum Empfang der jungen Frau niedergelassen hatte, schnalzte Don Alonso mit den Fingern, worauf aus dem Schatten eines Lehnstuhls die lange, schmale Gestalt eines Pagen trat.
»Tomas«, sagte er zu ihm, »im Hof hält ein Wagen, in dem ein Verwundeter liegt. Du sorgst dafür, daß er herausgehoben und so behutsam wie möglich zu Hamza getragen wird, damit er ihn untersucht. In kurzem werde ich selbst zu ihm gehen und mich über den Zustand des Mannes vergewissern. Dann wirst du dafür sorgen, daß die Dame de Montsalvy und ihr Knappe ehrenhaft untergebracht werden. Kommt, edle Dame, gehen wir inzwischen soupieren.«