»Dama«, sagte eine leise Stimme hinter ihr.
Sie fuhr herum. In der Tiefe des Gemachs, neben einem von Säulen umrahmten Fenster, knieten zwei junge Dienerinnen vor einer großen offenen Truhe aus bemaltem und vergoldetem Leder. Sie entnahmen ihr schimmernde Seidengewänder und breiteten sie über die roten Fliesen des Bodens. In ihrer Panik hatte Cathérine sie nicht einmal gesehen. Sie rieb sich, wieder in die Wirklichkeit versetzt, die Augen. Nein … es war nicht möglich zu fliehen. Da war ja Gauthier, ihr Freund Gauthier, den sie nicht im Stich lassen konnte. Ein Schluchzen entrang sich ihr. Mußte sie denn immer die Gefangene ihres Herzens bleiben, Gefangene der Bande, die es mit dem einen oder anderen ihrer Umgebung verknüpften?
Verlegen, weil sie sich bei einem Schwächeanfall, in völliger Verwirrung hatte überraschen lassen, antwortete sie mechanisch auf das schüchterne Lächeln der kleinen Dienerinnen, die ihr um die Wette Gold- und Silberbrokatstoffe, schimmernde Seide oder weichen Samt, drei Roben einer verstorbenen Schwester des Erzbischofs anboten. Die beiden jungen Mädchen traten näher, ergriffen ihre Hände und zogen sie zu einer Fußbank, bedeuteten ihr, sich zu setzen, und begannen sie ohne lange Umschweife zu entkleiden. Cathérine ließ es ohne Widerrede geschehen, ihre Gedanken wanderten und fanden mühelos zurück zu den alten Gewohnheiten von einst, als sie sich noch lange Minuten der ehrerbietigen Fürsorglichkeit der von Sara geleiteten Mägde überlassen hatte.
Die Erinnerung an ihre alte Freundin machte Cathérine mit einem Schlage deutlich, wie einsam sie war. Was hätte sie darum gegeben, Sara an diesem Abend bei sich zu haben! Wie hätte die Zigeunerin wohl auf dieses verwirrende Zusammentreffen reagiert? fragte sich die junge Frau. Und die Antwort kam bald, unverzüglich und klar. Sara hätte sich dem Phantom ohne jede Umschweife an die Fersen geheftet, hätte es verfolgt und sein Schweigen durchbrochen. Sie hätte ihm die Wahrheit entrissen.
»Auch ich werd's tun«, sagte Cathérine mit nachdenklicher Stimme. »Ich muß es wissen.«
Es war sonnenklar. Es würde weder Rast noch Ruhe geben, wenn sie nicht bis zum Kern des Geheimnisses durchdränge. Vorhin hatte der Mönch, ganz in seine Lektüre versunken, sie nicht bemerkt. Er mußte sie sehen, ganz deutlich, im vollen Licht. Seine Reaktion würde sie aufklären. Und danach …
Cathérine verbot sich, an das zu denken, was danach käme. Aber sie wußte im voraus, daß sie von neuem zum Kampf bereit war. Nichts, niemand, nicht einmal ein Gespenst aus dem Reich des Todes würde sie von Arnaud abbringen. Garin mußte tot sein, unbedingt tot, damit ihre Liebe leben konnte. Außerdem würde er, wenn er wirklich dem Tode entkommen war, zweifellos nicht wieder in sein einstiges Leben zurückkehren wollen; weshalb denn sonst das geistliche Kleid, weshalb dieses im Innern einer Festung des alten Kastiliens vergrabene Leben? Der Mann war Mönch, Gott hingegeben, Gott so eng verbunden, wie sie ihrem Gatten verbunden war. Und Gott ließ seine Beute niemals frei. Aber sie wollte trotzdem Gewißheit …
Die frischere Nachtluft, die durch das offene Fenster hereindrang, ließ sie frösteln. Die beiden Dienerinnen hatten sie gewaschen, ohne daß es ihr bewußt geworden war, und rieben jetzt ihre Haut mit ätherischen Ölen und seltenen Essenzen ein. Mit dem Finger deutete sie aufs Geratewohl auf eins der reichen Gewänder, die um sie herumlagen. Eine Woge sonnengelber Seide rauschte über ihren Kopf und rieselte in unzähligen schweren Falten an ihr nieder, doch ihr war zu bang im Herzen, als daß sie für die zarte Liebkosung des Stoffes empfänglich gewesen wäre. Einst hatte sie prächtige Gewänder und wundervolle Stoffe geliebt, aber das war schon lange her. Wozu war ein schmeichelndes Gewand gut, wenn es nicht für den Blick des geliebten Mannes bestimmt war?
Im Hintergrund des großen Gemachs schlugen die Dienerinnen die gestickten Vorhänge eines erhöhten Bettes aus Ebenholz mit Elfenbeinintarsien zurück, aber sie machte ihnen ein Zeichen, daß sie sich noch nicht zur Ruhe begeben wolle. Mit den vielen unbeantworteten Fragen, die in ihrem Kopfe kreisten, konnte sie nicht schlafen. Festen Schrittes, die seidenrauschende Schleppe ihres Gewandes hinter sich, ging Cathérine auf die Tür zu und öffnete sie. Auf der Schwelle vor ihr stand Josse.
Verblüfft über ihre prunkvolle Kleidung, machte er einen Augenblick große, runde Augen, doch bald trat sein bedächtiges Lächeln wieder auf seine Züge.
»Es ist erledigt«, sagte er. »Die Sklaven des Mauren haben unseren Verwundeten in ein Bett getragen. Wollt Ihr ihn sehen, bevor Ihr schlafen geht?«
Sie machte ein bejahendes Zeichen, schloß die Tür hinter sich, nahm Josses Arm und trat mit ihm in die lange Galerie, in der vorhin das Phantom verschwunden war. Fackeln erhellten sie in Abständen. Cathérine ging schnellen Schrittes und aufrechten Hauptes, die Augen geradeaus gerichtet, doch Josse beobachtete sie von der Seite. Schließlich sagte er:
»Ihr habt Kummer, Dame Cathérine.«
Es war eine Feststellung, keine Frage.
»Ich sorge mich um Gauthier, das ist ganz natürlich.«
»Nein. Als Ihr das Turmzimmer verließt, hattet Ihr nicht dieses gespannte Gesicht, und Euer Blick war nicht so gehetzt. Es ist Euch etwas zugestoßen. Was?«
»Ich müßte eigentlich wissen, daß Ihr Augen habt, die selbst in der dunkelsten Nacht sehen können«, entgegnete sie mit dem Schatten eines Lächelns. Außerdem war ihr Entschluß gefaßt. Josse war gescheit, gewandt, tüchtig und voll Verschlagenheit. Wenn er Sara auch nicht ganz ersetzen konnte, so wußte Cathérine wenigstens, daß sie ihm Vertrauen schenken konnte.
»Es ist wahr«, gestand sie. »Ich hatte vorhin ein Zusammentreffen, das mich beeindruckt hat. In dieser Galerie habe ich einen Mönch bemerkt. Er war groß, hager, hatte graues Haar, ein Gesicht wie aus Stein gemeißelt und trug außerdem eine schwarze Binde über dem einen Auge. Ich möchte gern wissen, wer dieser Mönch ist. Er … er ähnelt auf erschreckende Weise jemand, den ich gut gekannt habe und den ich für tot hielt.« Wieder lächelte Josse.
»Gemacht. Ich führte Euch zu Gauthiers Zimmer und werde mich dann erkundigen.«
Er verließ sie vor der Tür eines im Schloßturm, doch weit unter dem des Mauren gelegenen Gemachs und verschwand dann schnell und behende wie ein Luftzug auf der Wendeltreppe.
Der Raum, von viel kleineren Ausmaßen als der ihre, enthielt nichts als ein Bett, das schlecht geeignet schien, den riesigen Körper des Normannen aufzunehmen, und zwei Fußbänke.
Auf Zehenspitzen trat Cathérine näher. Auf dem Rücken liegend, den rasierten Kopf in einen umfangreichen Verband gehüllt, schlief Gauthier, nur beleuchtet vom unsicheren Licht einer auf einer der Fußbänke stehenden Kerze. Sein Gesicht war ruhig, entspannt, aber Cathérine kam es ungewöhnlich rot vor. Sie dachte, er habe vielleicht Fieber, und beugte sich hinunter, um seine auf der Decke liegende Hand zu ergreifen, aber eine andere Hand hielt sie zurück. Aus dem Schatten der Vorhänge sah sie Hamza, den Finger auf den Lippen, hervortreten.