»Keine Chance? Und warum nicht?«
»Erinnere dich doch dieser blendenden Erscheinung! Und schau mich an …«
Er hielt sie im letzten Augenblick zurück, als sie den schwarzen, schmutzigen Kattun herunterreißen wollte, unter dem sie fast erstickte, um ihr Gesicht, ihr blondes Haar zu enthüllen.
»Ihr seid am Ende, aber Ihr müßt Euch zusammennehmen! Man wird schon auf uns aufmerksam! … Dieser Schwächeanfall bringt uns alle in Gefahr! Unsere ungewöhnliche Sprache …«
Er brauchte nicht weiterzusprechen. Durch eine ungeheure Willensanstrengung überwand Cathérine ihre Mutlosigkeit. Gauthier hatte genau das Richtige gesagt, was ihr helfen konnte – hatte ihr klargemacht, daß ihre Haltung sie alle in Gefahr brachte. Übrigens kam Josse jetzt wieder zurück. Der falsche Blinde griff tastend nach der Wand und murmelte:
»Ich weiß, wo der Arzt wohnt. Es ist nicht weit. Zwischen dem Hügel der Alkazaba und den Mauern der Alhambra, am Flußufer. Der Mandelhändler hat mir gesagt: ›zwischen der Brücke des Kadi und dem Hamman, einem großen Haus, wo Palmen stehen …‹«
Ohne ein weiteres Wort brachen sie, sich wieder an den Händen haltend, auf. Die Berührung der rauhen Handflächen dieser Männer belebte Cathérine ein wenig, desgleichen der Gedanke, Abu al-Khayr wiederzusehen. Der kleine maurische Arzt kannte das Geheimnis, wie man mit Zuspruch Trost und neuen Mut einflößt. Viele Male hatten seine fremden philosophischen Lebensregeln sie aus tiefem Kummer, ja sogar aus Verzweiflung, an der sie beinahe gestorben wäre, gerissen!
Plötzlich hatte sie Eile, bei ihm zu sein, sah nichts mehr von der Stadt, die sie noch vor wenigen Augenblicken entzückt hatte. Indessen zogen ihre Gefährten sie in eine recht seltsame, mit Schilfrohrgeflecht überdachte Straße, durch das sich blitzende Sonnenstrahlen stahlen; auf beiden Seiten war sie von kleinen, türlosen Buden eingesäumt, in denen Kupferschmiede arbeiteten. Hammerschläge erfüllten die Gasse mit lustigem Lärm, und im Schatten der Verkaufsstände glänzten sanft die Becken, die Wasserkannen, die Messing- oder Kupferkessel und machten aus jeder kleinen Werkstatt eine Art Schatzhöhle. »Der Markt der Kupferschmiede!« erklärte Josse, aber Cathérine sah und hörte nichts. Unaufhörlich mußte sie an das herrische elfenbeinerne Profil, an die langen dunklen, zwischen dichten Wimpern leuchtenden Augen, an den auf den goldverbrämten Kissen ausgestreckten graziösen Körper denken.
»Sie ist zu schön!« sagte sie sich immer wieder. »Sie ist zu schön!« Diesen kleinen grausamen Satz, der sie folterte, wiederholte sie wie ein lästiges Leitmotiv. Sie murmelte ihn immer noch, als am Rande eines kleinen Sturzbachs, dessen rauschende Wasser hinter seinen Mauern hervorsprudelten, das Haus des Arztes Abu unter den grünen Kronen der Palmen, die aus seiner Mitte herauszuwachsen schienen, vor ihr auftauchte. »Wir sind da!« sagte Gauthier. »Hier ist unser Reiseziel.«
Doch Cathérine schüttelte den Kopf, als sie auf der anderen Seite des Bachs das Felsengebirge sah, auf dem stolz, hoch über ihnen, der rote Palast thronte. Das Ziel stand dort oben … und sie hatte weder Kraft noch Mut mehr, es zu erstürmen.
Als sich jedoch die hübsche Pforte mit ihren verzierten, nägelbeschlagenen Flügeln vor ihr öffnete, war die Zeit plötzlich aufgehoben. Cathérine war auf einmal zehn Jahre jünger, denn sie erkannte den großen, weißgekleideten und beturbanten Schwarzen wieder, der auf der Schwelle stand. Es war einer der beiden Stummen Abu al-Khayrs!
Der Sklave runzelte die Stirn, betrachtete die drei Bettler mit mißbilligendem Blick und wollte die Tür wieder schließen, aber Gauthiers Fuß, schnell dazwischengeschoben, hinderte ihn daran, während Josse ihn anherrschte:
»Geh und sage deinem Herrn, daß einer seiner ältesten Freunde ihn zu sprechen wünsche. Ein Freund aus dem Land der Christen …«
»Er kann nicht sprechen«, unterbrach Cathérine. »Der Mann ist stumm!«
Sie hatte französisch gesprochen, und der Schwarze sah sie mit Erstaunen und Neugier an. In den großen kugelrunden Augen sah sie etwas aufblitzen, und flink ließ sie ihren schwarzen Schleier sinken.
»Sieh!« sagte sie, auf arabisch diesmal. »Erinnerst du dich an mich?« Als Antwort ließ der Sklave sich mit einem rauhen Laut auf die Knie fallen, ergriff den Saum des zerlumpten Kleides und drückte ihn an die Lippen. Dann sprang er auf und eilte in den Innengarten, den man hinter einer Art viereckiger, mit großen Ziegelsteinfliesen ausgelegten Halle sehen konnte, die sich zwischen schlanken Säulen auf einen mit Blumenbeeten und drei fabelhaften Palmen bepflanzten Hof öffnete. In einem großen Springbrunnenbecken aus durchsichtigem Alabaster floß sachte klares Wasser und erfrischte den ganzen Wohnsitz.
Pflanzen, besonders Rosen, die in Hülle und Fülle blühten, und blütenübersäte, berauschend duftende Orangenbäume bildeten den größten Teil der Ausstattung dieses Hauses. Ein wahrhaft schönes Haus, in dem sich aber aller Luxus in die reine Linie der Säulen, in die Transparenz des sich wie feine Klöppelspitzen um die Galerie des ersten Stocks rankenden Alabasters und in die Frische des im Garten murmelnden Wassers flüchtete. Abu al-Khayr liebte die Einfachheit des täglichen Lebens, ohne jedoch auf den Komfort zu verzichten …
Auf den Fliesen des Gartens hörte man das Schlürfen von Lederpantoffeln, und plötzlich stand Abu al-Khayr da, derart dem Bild ähnelnd, das Cathérine in Erinnerung hatte, daß die junge Frau einen verblüfften Seufzer ausstieß. Das Gesicht des kleinen Arztes, von seinem absurden weißseidenen Bart umrahmt, war ebenso glatt und makellos wie eh und je, und er war genauso gekleidet wie an dem Tag, an dem sie sich zum erstenmal begegnet waren: Es war dasselbe Gewand aus dicker blauer Seide, derselbe unförmige feuerrote Turban, nach persischer Sitte gewickelt, es waren dieselben Pantoffeln aus purpurrotem Maroquin, zu blauseidenen Kniestrümpfen getragen. Er war kein Jahr, keinen Tag älter geworden! Seine schwarzen Augen blitzten immer noch ironisch, und sein Lächeln war der jungen Frau so vertraut, daß ihr beinahe die Tränen kamen, weil sie, als sie ihn nun wiedersah, das verrückte Gefühl überkam, heimzukehren.
Abu al-Khayr, der den höflichen Gruß Josses und Gauthiers übersah, stellte sich vor Cathérine auf, musterte sie von Kopf bis Fuß und erklärte einfach:
»Ich habe dich erwartet! Aber du kommst sehr spät!«
»Ich?«
»Ja, du! Du kannst dich nicht ändern, Frau einer einzigen Liebe! Und du ziehst es immer noch vor, wie der Nachtfalter im Feuer der Kerze zu sterben, statt in der Dunkelheit zu leben, nicht wahr? Die Hälfte deines Herzens ist hier. Wer kann mit nur einer Herzhälfte leben?«
Jähe Röte stieg Cathérine in die Wangen. Abu hatte seine außerordentliche Fähigkeit nicht verloren, in der geheimsten Kammer ihres Herzens zu lesen. Was hatte es übrigens für einen Sinn, die Höflichkeitsformen zu wahren?
Sie ging sofort in medias res.
»Habt Ihr ihn gesehen? Wißt Ihr, wo er ist? Was tut er? Wie lebt er? Ist er …«
»Langsam, langsam … beruhige dich!« Die kleinen, zarten Hände des Arztes umschlossen die vor Erregung zitternden der jungen Frau und hielten sie fest. »Frau ohne Geduld«, sagte er sanft, »warum diese Hast?«
»Weil ich einfach keine Geduld mehr habe … Ich kann nicht mehr, Freund Abu! Ich bin müde, verzweifelt!« Fast hätte sie in einem Anfall von Nervenschwäche geweint.
»Nein, du bist nicht verzweifelt. Sonst wärst du gar nicht hier! Ich weiß es. Der Dichter hat geschrieben: ›Wann, allmächtiger Gott, wird sich mein inniger Wunsch erfüllen: neben seinem zerzausten Haar Ruhe zu finden?‹ Und du, du redest wie der Dichter, das ist ganz natürlich!«
»Nein, nicht mehr. Jetzt fühle ich mich plötzlich alt …«