Doch bald schweifte Catherines Blick von der Stadt ab und richtete sich auf den riesigen Komplex des Palastes, der Fatimas Haus überragte. Dieses stand am Ufer des Darro, am Ausgang der Talschlucht, die er zwischen dem Vorgebirge der Alhambra und den Hügeln des Albaicin und der Alkazaba Kadima aushöhlte. Hundertfünfzig Meter über ihm hoben sich die tiefen Zinnen des Palastes vom samtenen Nachthimmel ab. Kein Licht, kein Lebenszeichen, außer den klirrenden Schritten der unsichtbaren Wachtposten, war zu bemerken.
Cathérine glaubte eine Drohung aus diesen stummen Mauern herauszulesen. Sie schienen ihrem Vorhaben, ihnen ihren Gefangenen zu entreißen, Trotz zu bieten.
Die Augen der jungen Frau verharrten so lange auf dem unheimlichen, schroffen Abhang, daß Fatima nach einem Augenblick bemerkte:
»Man könnte meinen, der Palast ziehe dich an, Licht des Morgens. Wovon träumst du, wenn du ihn betrachtest?«
Dreist antwortete Cathérine:
»Von dem Geliebten der Prinzessin! Von dem schönen fränkischen Gefangenen … Ich stamme aus demselben Land wie er, mußt du wissen. Es ist daher natürlich, daß ich mich für ihn interessiere.«
Fatima schlug sich mit ihrer großen Pranke heftig auf den Mund, und im Halbdunkel konnte Cathérine die weißen Augen der Äthiopierin vor Entsetzen rollen sehen.
»Bist du lebensmüde?« zischte sie. »Wenn ja, dann schicke ich dich lieber gleich deinem Herrn zurück, denn die Nachbarterrassen liegen sehr nahe, und ich sehe da drüben den safranfarbenen Schleier Aichas, der Frau des reichen Gewürzhändlers, das größte Klatschmaul der Stadt. Ich bin zwar schon alt und häßlich, trotzdem möchte ich noch ein Weilchen den Duft der Rosen atmen und schwarzen Nougat essen.«
»Warum ist es gefährlich, so zu reden?«
»Weil der Mann, auf den du angespielt hast, der einzige ist, an den keine Frau in ganz Granada auch nur denken darf, nicht einmal im Traum, wenn sie laut träumt. Die Henker Zobeidas sind mongolische Gefangene, die der ottomanische Sultan Murad ihr aus Ehrerbietung geschickt hat. Sie verstehen sich darauf, den Todeskampf tagelang auszudehnen, ohne den Tod herbeizuführen, und es ist besser, sich den Zorn des Kalifen persönlich zuzuziehen als die Eifersucht Zobeidas. Selbst die Lieblingssultanin, die blendende Amina, würde das nicht riskieren. Zobeida haßt sie schon genug. Das ist übrigens der Grund, weshalb sie selten in der Alhambra residiert.«
»Wo wohnt sie dann?«
Der dicke Finger Fatimas wies auf die eleganten Pavillons und grünen Dächer eines größeren Gebäudekomplexes im Süden der Stadt außerhalb der Mauern, der sich aus einem riesigen Garten zu erheben schien, dessen Grün sich in einem glitzernden Bach spiegelte.
»Das ist der Alkazar Genil, das Privatpalais der Sultaninnen. Es ist leicht zu bewachen, und Amina fühlt sich dort sicherer. Die Sultaninnen haben es selten bewohnt, aber Amina kennt den Haß ihrer Schwägerin. Gewiß, Mohammed liebt sie, aber er ist ein Dichter und Krieger und hat für Zobeida schon immer eine Schwäche gehabt, der die Sultanin mißtraut.«
»Wenn die Prinzessin ihren Kopf durchsetzte«, bemerkte Cathérine, »habe ich nicht das Gefühl, daß sie in diesem Palast lange sicher wäre.«
»Mehr, als du glaubst. Denn da ist noch …«
Ihr Finger zeigte nicht weit von der Medersa auf eine Art mit Zinnen gespickter und von einer großen Zahl von Feuertöpfen erleuchteter Festung, die das Südtor der Stadt zu bewachen schien und einen überwältigenden Eindruck machte.
»… der Sitz von Mansour ben Zegris. Er ist Aminas Vetter, war schon immer in sie verliebt und ist ohne Zweifel der reichste Mann der Stadt. Die Zegris und die Banu Saradj sind die mächtigsten Familien Granadas und, wohlverstanden, Nebenbuhler. Amina ist eine Zegris, ein Grund mehr für Zobeida, sie zu hassen, denn sie protegiert die Banu Saradj. Du kannst dir den Unfrieden nicht vorstellen, den die Streitereien dieser beiden Familien uns einbringen, und wenn der Kalif Mohammed schon zweimal seinen Thron verloren hat, dann kann man ohne Scheu sagen, daß er es den Zegris verdankte!«
»Hat er sich nicht an ihnen gerächt, als er zum drittenmal an die Macht kam?«
Fatima zuckte mit den Schultern.
»Wie könnte er? Der Sultan, der in Fes über die weiten Ländereien des mächtigen Maghreb herrscht, ist ihr Freund. Wenn er Zegris hinrichtete, würde das seinen fürchterlichen Zorn entfesseln, und die wilden Wüstenreiter stünden bald unter unseren Mauern. Nein, Mohammed hat es vorgezogen, sich mit seinem Feind abzufinden. Die Sanftmut und Güte Aminas, die ihrer Familie zwar sehr verbunden, aber leidenschaftlich in ihren Gatten verliebt ist, haben viel zu dem Vertrag beigetragen, der abgeschlossen worden ist. Das ist der Grund, weshalb Mohammed es erträgt, daß Mansour ben Zegris dort wohnt, vor seiner Tür wie eine große Dogge kauernd, die jederzeit bereit ist zuzubeißen.«
Fatimas Stimme erstarb. Schweigen herrschte einen Augenblick zwischen den beiden Frauen. Cathérine dachte über alles nach, was sie soeben gehört hatte. Diese an sich unbedeutenden Auskünfte könnten sich für jemand, der darauf brannte, sich in ein gefährliches Abenteuer zu stürzen, als höchst interessant erweisen. Sorgfältig merkte sie sich die fremden Namen, die sie soeben gehört hatte: Amina, die Sultanin, der Abu al-Khayr das Leben gerettet hatte; Mansour ben Zegris, der verliebte Vetter Aminas; und die Nebenbuhlerfamilie, die Zobeida protegierte, die Banu Saradj. Sie wiederholte die Namen im Geiste mehrmals hintereinander, um sicherzugehen, daß sie sie nicht vergaß.
Sie öffnete den Mund, um Fatima eine neue Frage zu stellen, aber ein mächtiges Schnarchen schnitt ihr das Wort ab. Ermüdet durch ihre schwere Tagesarbeit, hatte die dicke Äthiopierin sich sacht auf die auf dem Boden ausgebreiteten Kissen zurückgelegt und überließ sich, den großen Mund weit geöffnet, die Hände auf dem stattlichen Bauch gefaltet, dem Schlaf. Cathérine lächelte still, machte es sich auf ihren Kissen bequem und hing weiter ihren Träumen nach.
Acht Tage später war Cathérine verwandelt. Das ruhige, träge und bequeme Leben, das sie bei Fatima geführt hatte, die reichliche Nahrung, die langen, faulen Stunden in den Bassins mit lauwarmem, heißem oder kaltem Wasser und besonders die vielfältigen komplizierten Prozeduren, welche die Äthiopierin mit ihr vorgenommen hatte, hatten Wunder gewirkt. Ihr Körper hatte seine Magerkeit verloren, ihr Fleisch blühte wieder herrlich, ihre Haut war so fein und zart geworden wie ein Blütenblatt, und schließlich hatte sie sich an die fremde Landeskleidung gewöhnt und empfand Vergnügen daran, sie zu tragen.
Während ihres Aufenthalts bei Fatima hatte Abu al-Khayr sie mehrere Male besucht, um sich von dem erzielten Fortschritt zu überzeugen, doch hatten weder Gauthier noch Josse ihn begleiten dürfen. Seine Besuche waren schnell erfolgt und immer steif verlaufen, denn er achtete streng darauf, seine Haltung als Kunstliebhaber zu bewahren, der kommt, um zu sehen, wieweit die Instandsetzung des seltenen Gegenstandes gediehen sei, den er aufgestöbert hatte.
Er hatte ihr dabei zuflüstern können, er habe das richtige Mittel noch nicht entdeckt, sie im Palast einzuführen, habe aber verschiedene Pläne in Aussicht, doch dies hatte Catherines Ungeduld natürlich nicht besänftigt. Sie fühlte sich jedenfalls völlig bereit. Die großen polierten Silberspiegel des Massageraums vermittelten ihr jetzt ein vorzügliches Bild, dessen neue Macht sie schleunigst ausprobieren wollte. Doch Fatima war offenbar noch nicht zufrieden.