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Dieser Vorfall übrigens sollte zum Vorspiel einer wesentlich ernsteren Angelegenheit werden. Gegen Ende des Vormittags erreichte der Reitertrupp Jaleyrac. Der dichte Waldbestand hörte hier mit einem Schlag auf; mitten zwischen gut gehaltenen Feldern, auf denen Roggen und Buchweizen wachsen würden, lagen eine große Abtei und ein bescheidenes Dorf, ein Bild, das den Eindruck außerordentlichen Friedens hervorrief. Vielleicht lag es an der freundlichen Sonne, die den Schnee vergoldete, vielleicht auch am zarten Läuten einer Glocke, jedenfalls war an diesem einfachen, kleinen Nest, an diesem ländlichen Kloster etwas ganz Besonderes. Seltsamer noch: Die Menschen verkrochen sich nicht wie in den anderen Dörfern. Es herrschte viel Leben auf der einzigen Dorf Straße, die zu der gedrungenen Kirche hinaufführte.

Angesichts des Ortes zügelte MacLaren sein Pferd und lenkte es neben den Gaul, der Bruder Etienne trug. Rittlings hinter einem mageren Schotten sitzend, den er an Gewicht leicht doppelt übertraf, schien der kleine Mönch den Ritt bis zu diesem Augenblick mit vollen Zügen genossen zu haben.

»Was tun diese Leute da alle?« fragte MacLaren kurz.

»Sie gehen in die Kirche«, antwortete Bruder Etienne. »In Jaleyrac verehrt man die sterblichen Überreste Saint-Méens, eines Mönchs, der einstmals aus dem Land Wales übers Meer kam und dessen bretonische Abtei von den Normannen geplündert und niedergebrannt wurde. Die Mönche sind damals vor ihnen geflohen. Und wenn so viele Menschen zu sehen sind, dann deshalb, weil Saint-Méen im Rufe steht, sich besonders der Leprakranken anzunehmen.«

Das Wort traf Cathérine mitten ins Herz. Sie wurde weiß bis zu den Lippen und mußte sich an MacLarens Schultern klammern, um nicht zu fallen.

»Die Leprakranken …«, sagte sie tonlos.

Mehr brachte sie nicht hervor, die Stimme blieb ihr in der Kehle stecken. Auch weil die Menge, die sich in der einzigen Gasse zusammendrängte, etwas Furchtbares an sich hatte. Wesen, von denen man nicht mehr wußte, ob sie Mann oder Frau waren, schleppten sich durch den Schnee, auf T-förmige Krücken oder Stöcke gestützt, schwärzliche Glieder zeigend, wenn es nicht überhaupt nur noch Stümpfe waren, schreckliche Geschwüre, die die Gesichter zerfraßen, Geschwülste, Flechten, Tumoren, eine abscheuliche Menschheit, offenbar von der Hölle selbst ausgespien, die heulend und Psalmen absingend der geweihten Stätte zueilte. Graugekleidete Mönche, ein T aus blauem Email auf der Schulter, neigten ihre rasierten Köpfe zu ihnen hinunter und halfen ihnen, den Weg hinaufzusteigen.

»Leprakranke«, sagte MacLaren angewidert.

»Nein«, berichtigte Bruder Etienne, »alles, nur keine Leprakranken … Krätzekranke, Rotlaufkranke, Opfer verfaulter Wurzeln und verdorbenen Mehls, die sie in ihrem Elend gegessen haben und dank denen sie jetzt von Milzbrand und Räude bei lebendigem Leibe zerfressen werden. Die dort sind die Leprakranken!«

Tatsächlich quoll jetzt aus dem Tor einer rohen Umwallung, die einige abseits des Dorfs errichtete Hütten umgab, eine andere Prozession: Männer, einheitlich in graue Röcke mit aufgenähten scharlachroten Herzen und eng das Gesicht umschließende rote Kapuzen unter großen Hüten gekleidet. Jeder schüttelte auf seinem Weg zum Dorf eine Klapper, die in der reinen Höhenluft unheimlich widerhallte. Und vor ihnen ergriff selbst die erbärmliche Menge der anderen Kranken entsetzt die Flucht. Diese menschlichen Wracks, die selbst nur aus Unreinheit bestanden, liefen, so schnell sie konnten, zum Kloster oder preßten sich an die Hauswände, um jeden unreinen Kontakt zu vermeiden. Die Augen von Tränen verschleiert, nahm Cathérine diesen Anblick in ihre Seele auf. Alles, was sie sah, weckte ihren Schmerz von neuem, beschwor wieder die kopflose Verzweiflung der ersten Tage herauf. Diese Elenden, das war von nun an die Welt des Mannes, den zu lieben sie nicht aufhören konnte, den sie bis zum letzten Atemzug anbeten würde.

Sara verfolgte unruhig auf dem Gesicht der jungen Frau die Anzeichen des Schmerzes, den sie empfand. Tränen rollten schnell über die blassen Wangen hinunter. Sie sah, daß Cathérines traurige Augen mit verdächtiger Beharrlichkeit auf einem Mönch in brauner Kutte verharrten. Und plötzlich begriff die Zigeunerin, warum. Es war der Aufsehermönch der Leprastation von Calves. Zweifellos hatte er einige Kranke in der Hoffnung hierhergeführt, ihnen in Saint-Méen Heilung zu verschaffen.

Doch Saras Gedankenfluß wurde durch das, was sie seit einem Augenblick unbewußt erwartete, unterbrochen: durch den verzweifelten Angstschrei Cathérines.

»Arnaud!«

Die Leprakranken hatten die Anhöhe umgangen, auf der die Reiter hielten, und entfernten sich, aber der Mann, der neben dem braunen Mönch schritt, dieser große, magere Mann, dessen breite Schultern die Uniform des Elends mit soviel instinktiver Eleganz trugen, dies war, dies konnte nur Arnaud de Montsalvy sein!

Cathérines Liebe hatte ihn noch vor ihrem Blick erkannt. Bevor der sprachlose MacLaren auch nur daran denken konnte, sie zurückzuhalten, war sie schon zu Boden geglitten und eilte, mit beiden Händen ihren langen Rock raffend, durch den Schnee. Mit derselben Hurtigkeit, geboren aus ihrer gemeinsamen zärtlichen Liebe, hatten Sara, Gauthier und Bruder Etienne es ihr nachgetan. Die langen Beine des Normannen ermöglichten es ihm bald, die anderen weit hinter sich zu lassen. Doch von ihrer Leidenschaft angetrieben, lief Cathérine so schnell, daß er sie anscheinend nicht einholen konnte. Weder der Schnee noch der unebene Weg konnten sie aufhalten. Sie flog förmlich dahin, der schwarze Schleier flatterte hinter ihr wie eine Fahne in der Schlacht. Ein einziger erregender, überspannter Gedanke beherrschte sie: Sie würde ›ihn‹ wiedersehen, würde mit ihm sprechen. Ein ungeheures Glücksgefühl hatte ihre Seele wie ein Sturm, der jedes Hindernis niederreißt, überfallen. Ihre Augen, trocken und funkelnd jetzt, waren auf diesen Mann geheftet, der da neben dem Mönch schritt.

Dieser Überschwang, den Gauthier in Cathérine ahnte, erfüllte ihn mit Entsetzen, denn er konnte nicht andauern. Was würde sie finden, wenn der Mann sich zu ihr umdrehte? Hatte sich Arnaud de Montsalvy in den Monaten, die er in der Leprastation war, nicht verändert? Würde es nicht ein schon zerfressenes Gesicht sein, das Cathérine zu sehen bekäme? Er beschleunigte seinen Lauf, rief:

»Dame Cathérine … ich flehe Euch an, wartet! Wartet auf mich!«

Seine mächtige Stimme trug so weit, daß sie über Cathérine hinaus bis zum Zug der Leprakranken drang. Der Mönch drehte sich um und sein Gefährte mit ihm. O ja, es war Arnaud! Die Freude sprengte ihr fast die Brust vor Hoffnung, und der Atem begann ihr auszugehen. Ob ein Wunder geschehen würde? Ob sie wieder vereint sein würden? … Hatte Gott endlich Mitleid mit ihr gehabt? Hatte er die flehentlichen Gebete ihrer schlaflosen Nächte erhört? Jetzt konnte sie schon das teure, von der roten Mütze eng umschlossene Gesicht erkennen, das immer noch schön, immer noch edel aussah. Die schreckliche Krankheit hatte es noch nicht verwüstet. Nur noch ein wenig Anstrengung, nur noch einen kurzen Augenblick, und sie würde es erreichen. Mit ausgestreckten Armen zwang sie sich, noch schneller zu laufen, taub für die Rufe Gauthiers, die immer noch hinter ihr her hallten.

Aber auch Arnaud hatte sie erkannt. Cathérine sah, wie er erblaßte, und hörte ihn rufen:

»Nein, nein!«

Schon aus der Entfernung wehrte er sie mit einer heftigen Bewegung seiner behandschuhten Hände ab. Er murmelte dem Klosterbruder etwas zu, und dieser stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor die junge Frau, ihr den Weg versperrend. Sie warf sich blindlings gegen ihn, prallte hart gegen einen kräftigen, in braunen, groben Wollstoff gekleideten Körper, klammerte sich an die ausgebreiteten Arme wie an eine Barriere.

»Laßt mich durch!« rief sie flehentlich. »Laßt mich durch! … Es ist mein Mann! … Ich will ihn sehen!«