»Verzeiht die Störung, Cathérine, aber wenn Ihr keinen großen Wert darauf legt, bei Tagesanbruch mit dem Gefängnis der Grafschaft Bekanntschaft zu machen, dann rate ich Euch, Euch anzuziehen, Sara zu wecken und mir zu folgen. Bruder Etienne dürfte schon im Stall sein.«
»Aber … warum so früh? Wieviel Uhr ist es denn?«
»Eine Stunde nach Mitternacht. Ich gebe zu, daß es ein wenig früh ist, aber die Zeit drängt.«
»Warum?«
»Weil der Anblick eines gewissen Diamanten den Verstand eines bislang ehrlichen Mannes getrübt hat. Damit will ich sagen, daß Meister Amable soeben, nachdem er seine Herberge abschloß, zum Profos geeilt ist, um uns als gefährliche Missetäter anzuzeigen, nach denen von Monseigneur dem Großkämmerer gefahndet wird. Das exotische Aussehen Saras und die Tatsache, daß ich den Juden Abrabanel erwähnte, haben seiner Denunziation den leichten Ruch von Hexerei, von Zauberkunst hinzugefügt. Kurz, um einen Anteil an dem fabelhaften Kleinod zu bekommen, ist Meister Amable bereit, uns auf den Scheiterhaufen zu schicken.«
»Woher wißt Ihr das alles?« fragte Cathérine, zu verdutzt, um wirklich erschreckt zu sein.
»Erstens, weil ich unserem würdigen Gastgeber gefolgt bin, als er aus dem Haus ging. Sein Verhalten während des Abendessens kam mir verdächtig vor. Er wurde abwechselnd rot und blaß, seine Hände zitterten wie Blätter im Wind, und sein Blick blieb hartnäckig auf meine Geldkatze gerichtet. Ich kenne ihn schon geraume Zeit, aber ich habe gelernt, Menschen zu mißtrauen, wenn Gold im Spiel ist. Die Kammer, die ich mit Bruder Etienne teile, liegt glücklicherweise über der Herbergstür. Ich habe mich auf die Lauer gelegt, weil mich eine Vorahnung trieb, und habe unseren Gastwirt tatsächlich heimlich sich fortstehlen sehen, als er annehmen konnte, daß jedermann schliefe. Da mir die Geduld fehlte, die Treppe zu benutzen, ließ ich mich schleunigst am Fachwerk des Hauses zu Boden gleiten und machte mich auf Amables Spur. Als ich ihn die Auffahrt zum Schloß hinaufgehen sah, war mir klar, daß ich recht gehabt hatte, ihn zu überwachen.«
»Und dann?« fragte Cathérine, vor Kälte zitternd, und beeilte sich, ihr Kleid wieder überzuziehen. »Was ist dann passiert? Seid Ihr sicher, daß er uns denunziert hat?«
»Das ist eine Frage, die Ihr nicht stellen würdet, wenn Ihr ihn händereibend hättet fortgehen sehen. Außerdem konnte ich mich vergewissern, daß ich mich nicht täuschte. Bei Tagesanbruch soll eine Abteilung des Profosen uns verhaften, und zwar noch vor Öffnung der Stadttore.«
»Wer hat Euch das gesagt?«
Jacques Coeur lächelte, und Cathérine sagte sich, daß er für einen von Gefängnishaft bedrohten Mann sehr ruhig und gelassen schien.
»Zufällig habe ich zwei oder drei Freunde in dieser Stadt, was Meister Amable nicht weiß. Der Zweitälteste Sohn einer der beiden Inhaber des Fabrikationsgeheimnisses der Gobelins ist Sergeant in der Garnison. Ich bin einfach frech zum Schloß gegangen, habe mich auf der Wachstube gemeldet, ohne natürlich meinen Namen zu nennen, und habe ihn zu sprechen verlangt.«
»Ohne Schwierigkeiten?«
»Ein Goldstück vermag viel. Cathérine, und zufällig hat der junge Esperat einen gesunden Sinn fürs Kommerzielle. In dem Wunsch, seinem Vater einen guten Kunden zu erhalten, hat er gar keine Schwierigkeiten gemacht, mich über die Befehle, die er für den Tagesanbruch erhalten hat, ins Bild zu setzen.«
Cathérine hatte ihr Kleid nun geschnürt und schüttelte jetzt Sara, die sich schwer wecken ließ.
»Es ist sehr hübsch, so gut unterrichtet zu sein«, murrte sie. »Aber da wir keine Vogelflügel haben, sehe ich nicht, wie wir aus einer mit hohen Mauern umgebenen und mit schweren, wohlverschlossenen und bewachten Toren versehenen Stadt hinauskommen sollen. Wir sitzen in einer Mausefalle, denn die Stadt scheint mir zu klein, als daß man sich in ihr verstecken könnte.«
»Trotzdem werden wir hinauskommen … jedenfalls hoffe ich's. Beeilt Euch, Cathérine. Bruder Etienne muß schon bei den Pferden sein.«
Cathérine schlug die großen Augen auf und sah Jacques an, als wäre er plötzlich verrückt geworden.
»Wollt Ihr etwa zu Pferde fort? Ihr fürchtet Euch wahrhaftig vor nichts. Ein Pferd macht doch Geräusche. Und nun erst vier Pferde!«
Ein flüchtiges Lächeln erhellte das ernste Gesicht des Pelzhändlers. Seine Hand legte sich einen kurzen Augenblick auf Cathérines Schulter und drückte sie.
»Wollt Ihr nicht versuchen, mir Vertrauen entgegenzubringen, meine Freundin? Ich kann natürlich keinen Eid leisten, daß der Schritt, zu dem ich Euch überrede, richtig ist. Ich sage nur, daß ich mein Bestes tun werde. Aber genug der Worte! Kommt!«
Im Nu machten die beiden Frauen sich fertig. Die Gefahr witternd, beeilte sich Sara, ohne unnütze Fragen zu stellen. Vorsichtig Jacques Coeur folgend, mühten sie sich mit der abgetretenen Treppe ab, setzten die Füße so nahe wie möglich am Geländer auf, um zu vermeiden, daß ihre Schritte zu hören waren. Die Stille war so tief, daß schon das Geräusch ihres Atems sie in Schrecken versetzte. Sie erreichten unbehindert das Erdgeschoß. Jacques Coeur, der Cathérine an der Hand hielt, zog sie schnell quer durch die Gaststube zur Hintertür der Herberge. Dort genügte es, darauf zu achten, nicht an die Bank oder den Tisch zu stoßen, denn die steinernen Fliesen des Bodens ächzten nicht. Als der Pelzhändler aber die Hand auf die Klinke legte, hielt ein trockenes Knacken ihn zurück und veranlaßte ihn und seine Begleiterinnen, sich mit klopfenden Herzen an die Wand zu pressen.
Es war nur eine Lächerlichkeit. Die Dienstmagd hatte die Glut mit Asche bedeckt, um das Feuer am Morgen nicht erst wieder anzünden zu müssen, und ein glimmendes Holzscheit mußte geborsten sein. Jacques atmete erleichtert auf, während Cathérine einen Seufzer ausstieß. Sie tauschten einen Blick und ein ziemlich zitterndes Lächeln. Langsam, Zoll um Zoll, öffnete sich die Kastanienholztür. Jacques blies seine Kerze aus, stellte sie auf den Boden, zog Cathérine hinter sich her, und Sara schloß die Tür wieder. Unter dem Wetterdach ihnen gegenüber drang ein Lichtschimmer aus der Stalltür, dem sie zustrebten.
»Wir sind's, Pater!« flüsterte Jacques.
Bruder Etienne war tatsächlich im Stall an der Arbeit. Mit Hilfe von Lappen, die er in der Küche des Gastwirts hatte entwenden können, umwickelte er sorgfältig die Hufe der Pferde, und das mit solcher Ruhe, als läse er sein Brevier. Jacques und Sara halfen ihm dabei. Nach einigen Augenblicken war alles für den Aufbruch fertig, und während Cathérine eiligst den Torweg öffnete, führten die drei anderen, den Pferden die Nüstern zuhaltend, eins nach dem anderen so lautlos wie möglich auf die Straße. Diese verlief auf die Kirche Sainte-Croix zu. Von dort zog sich eine Art Marktplatz zum Bergfried und zum Schloß hinauf, dessen vierschrötige Umrisse sich vom dunklen Himmel abhoben. Cathérine raffte ihren Mantel um den Hals zusammen. Der Wind, der von der Ebene her blies, war scharf, trocken und schneidend. Kein Licht durchdrang die Nacht, ausgenommen bei der Zugbrücke des Schlosses oben, wo ein Feuer in einer Eisenpfanne wie ein roter Stern glänzte. Der steinerne Wasserfall der Häuser schien der kunstlosen Festung zu entspringen, deren zackige Krone die spitzgiebligen Dächer beherrschte, die sich eins aufs andere stützten. Weiter unten, vor der Kirche, erhob sich eine Art Turm aus fensterlosen Mauern.
»Das Gefängnis!« sagte Jacques Coeur nur, als ob er den Mut Cathérines stärken wollte. »Folgt mir. Wir müssen zum Schloß hinauf.«
»Zum Schloß?« fragte Cathérine wie ein Echo.