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»Natürlich. Justin Espérât erwartet uns dort an der Umfassungsmauer. Da oben, dem Plateau zu, geht nämlich die Mauer des Kastells in die Stadtmauer über.«

»Und dann? Ich begreife immer noch nichts.«

»Ihr werdet schon begreifen. Der Himmel ist offenbar mit uns. Der Frost war in diesem Winter so stark, daß Steine gesprungen sind und in der Mauer sich eine Bresche geöffnet hat. Natürlich wird diese Bresche bewacht, bis das Ende der Frostperiode die Ausbesserung gestattet. Und es trifft sich gut, daß Espérât von der ersten Morgenstunde an dort Wache hat.«

Diesmal schwieg Cathérine. Sie hatte nichts mehr einzuwenden. Und dann war der Aufstieg mühsam, und je länger man stieg, desto mehr erschwerte die Kälte das Atmen. Zudem mußten sie die Tiere fest am Zügel halten, damit sie nicht ausglitten.

Bald wurden die Schatten dichter. Sie folgten der Fassade des Schlosses. Die große Zugbrücke war hochgezogen, doch die des Ausfalltors war an Ort und Stelle. Ein Soldat stand Wache, schwer auf seine Lanze gestützt. Dort brannte auch die Feuerpfanne. Jacques Coeur hob die Hand, um Halt zu gebieten, und näherte sich Cathérine.

»Wir müssen fast direkt vor der Nase des Postens vorbei. Dafür gibt es nur ein Mitteclass="underline" ihn beschäftigen!« flüsterte er.

»Aber wie?«

»Ich glaube, das geht Bruder Etienne an. Unglaublich, was man mit einer Franziskanerkutte alles anstellen kann!«

Ohne Zweifel wollte Cathérine um weitere Erklärungen bitten, doch der Mönch reichte Jacques Coeur bereits die Zügel seines Pferdes.

»Laßt mich machen! Paßt nur den richtigen Augenblick ab, und macht sowenig Lärm wie möglich.«

Der Mönch streifte seine Kapuze wieder über den Kopf, schob die Hände in seine Ärmel und machte sich beherzt auf den Weg, dem Lichtklecks entgegen, in dem der auf seine Lanze gestützte Soldat friedlich döste. Gedeckt hinter ihrer Strebemauer, hielten die anderen den Atem an. Das Geräusch der Schritte des Mönchs hatte den Soldaten aufgeschreckt. Hastig richtete er sich auf.

»Wer ist da?« fragte er mit vor Müdigkeit heiserer Stimme. »Was wollt Ihr, Pater?«

»Ich bin Pater Ambrosius vom Kloster Saint-Jean«, log der Kapuziner mit prächtiger Sicherheit. »Ich komme, um dem im Sterben liegenden Mann die Sakramente zu geben.«

»Jemand liegt im Sterben?« fragte der Soldat erstaunt. »Wer soll denn das sein?«

»Wie kann ich das wissen? Einer von euch kam und bat um einen Priester, der die Beichte abnehmen soll. Mehr hat man mir nicht gesagt!«

Der Posten schob seinen Helm zurück und kratzte sich den Kopf. Offensichtlich wußte er nicht, wozu er sich entschließen sollte. Schließlich schulterte er seine Waffe.

»Ich hab' diesbezüglich keine Befehle, Pater. Folglich kann ich's auch nicht auf mich nehmen, Euch Einlaß zu gewähren. Geduldet Euch einen Augenblick!«

»Beeilt Euch, mein Sohn!« sagte Bruder Etienne mürrisch. »Der Wind ist schneidend!«

Der Mann verschwand unter dem niedrigen Spitzbogen des Ausfalltors. Er ging zur Wachstube, um Instruktionen einzuholen.

»Jetzt!« flüsterte Jacques Coeur.

Sie verließen ihre Deckung und überquerten schnell das erleuchtete Gelände. Die mit Tüchern umwickelten Hufe der Pferde verursachten kein Geräusch. Drei Herzschläge, und schon waren sie wieder ins Dunkel getaucht, aber Cathérines Atem ging so heftig, als hätte sie einen langen Lauf hinter sich. Der Winkel eines Turmvorsprungs bot den Flüchtigen neue Zuflucht. Inzwischen erschien der Soldat von neuem.

»Entschuldigt, Pater, aber man hat Euch schlecht informiert! In dieser Nacht liegt niemand im Sterben.«

»Aber ich bin sicher …«

Der Mann schüttelte mißbilligend und ehrlich betrübt den Kopf.

»Es kann nur ein Irrtum sein. Oder vielleicht hat jemand einen Schabernack mit Euch getrieben …«

»Einen Schabernack? Und das einem Diener des Herrn? Oh, mein Sohn!« entrüstete sich der Mönch mit vollkommener Unbefangenheit.

»Verflixt! In den unglücklichen Zeiten, in denen wir leben, Pater, darf man über rein gar nichts erstaunt sein. An Eurer Stelle würd' ich mich tummeln und schleunigst zu Eurem Ofen zurückkehren!«

Bruder Etienne hob die Schultern und zog seine Kapuze tiefer über sein Gesicht.

»Da ich nun schon mal draußen bin, werd' ich zum Clermonttor gehen und die alte Marie besuchen, der es sehr schlecht geht! Die Nächte sind lang, wenn der Tod sich nähert, und in den ersten Morgenstunden ist die Todesangst meist am schlimmsten! Gott behüte Euch, mein Sohn!« Bruder Etienne erteilte flüchtig seinen Segen und verließ dann den Lichtkreis, während der Soldat sich neuerlich auf seine Waffe stützte und seine trübsinnige Wache wiederaufnahm.

Einige Augenblicke später war der Franziskaner wieder bei den drei anderen angelangt. Je weiter die Nacht fortschritt, desto schärfer wurde die Kälte, und hinter der dicken, rauhen Mauer der Stadt, in deren Schutz sich ein paar baufällige, dem Untergang geweihte Häuser duckten, hörte man den Wind pfeifen und ungehindert über das Hochplateau fegen. Wortlos hatte Jacques Coeur sich wieder an die Spitze des kleinen Trupps gesetzt. Man wand sich jetzt durch einen engen Schlauch, der sich zwischen der Stadtmauer und der des Schlosses hinzog und in einer Sackgasse endete. Vom Boden stiegen unerträgliche Gerüche auf, so stark, daß selbst die Kälte sie nicht zu mildern vermochte. Cathérine, die mutig gegen den Brechreiz ankämpfte, hatte das Gefühl, in eine klebrige, feuchte Welt einzudringen, in der die Luft sich in ekelhaften Gestank verwandelte. Die mit Tüchern umwickelten Hufe der Pferde glitten auf unzähligen Abfällen aus. Der Fluß war weit, die Menschen dieses Viertels hatten da einen bequemen Schuttabladeplatz gefunden.

Plötzlich schien die Mauer sich zu teilen, der Himmel tauchte wieder auf, und eine dunkle Silhouette hob sich vom Schatten ab.

»Seid Ihr es, Maître Coeur?«

»Ja, wir sind's, Justin. Haben wir uns verspätet?«

»Sehr verspätet. Ihr müßt vor Tagesanbruch noch viel einholen. Beeilt Euch!«

Cathérines Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Sie konnte die schmale Gestalt eines jungen Bogenschützen erkennen, konnte deutlicher den Fleck eines Gesichts unter dem Eisenhut ausmachen. Ein Jagdhorn hing am Riemen an der Seite des jungen Mannes. Einen kurzen Augenblick sah sie zwei lebhafte Augen blitzen.

»Bist du sicher, daß du keine Scherereien bekommen wirst, Justin?«

»Keine Sorge. Der Profos wird denken, Meister Amable habe zuviel getrunken, und niemand wird auf den Gedanken kommen, hier nachzuforschen, übrigens werden die mit Tüchern umwickelten Hufe eurer Pferde keinerlei erkennbare Spuren in diesem Dreck hinterlassen …«

»Du bist ein tapferer Bursche, Justin. Ich werde mich erkenntlich zeigen.«

Das leise Lachen des jungen Mannes klang in die Nacht, sorglos, tröstlich.

»Dankt meinem Vater, Maître Jacques, indem Ihr ihm ein schönes Stück in Auftrag gebt, wenn Ihr reich und mächtig geworden seid. Er träumt davon, den schönsten Gobelin der Welt zu weben, und hört nicht auf, schöne Damen und phantastische Tiere zu entwerfen.«

»Dein Vater ist ein großer Künstler, Justin, das weiß ich seit langem. Ich werde ihn bestimmt nicht vergessen. Auf Wiedersehen, mein Kind, und nochmals vielen Dank! Denn ich weiß, daß du einiges riskierst, trotz allem, was du sagst!«

»Wenn es kein Risiko gäbe, Messire, wo bliebe da die Freundschaft? Geht mit Gott, und macht Euch um mich keine Sorgen, aber beeilt Euch, um Himmels willen!«

Ohne noch ein Wort hinzuzufügen, drückte Jacques dem jungen Mann die Hand und half dann Cathérine, über die von der Verbindungsmauer heruntergefallenen Steine zu klettern. Dahinter lag die Freiheit. Ein kleines Plateau breitete sich vor ihnen, über das heftiger Wind blies, und weiter entfernt stieg der Hügel wieder an. Während einiger Augenblicke schritten die Flüchtlinge wortlos voran, die Pferde noch immer am Zügel führend. Die Nacht schien jetzt weniger schwarz zu sein, oder aber die Augen hatten sich völlig an die Dunkelheit gewöhnt. Cathérine konnte die Formen der Bäume unterscheiden, deren nackte Äste sich unter den plötzlichen Windstößen bogen.