»Wir sind schon aus viel gefährlicheren Schlössern entwichen. Erinnere dich an Champtocé und Gilles de Rais!«
»Danke, ich habe nicht vergessen, daß der Herr Blaubart mich lebendig rösten wollte«, antwortete die Zigeunerin schaudernd. »Während der ganzen Zeit in Angers dachte ich, daß wir verdammt nahe daran waren! Aber da wir nun an unserem Bestimmungsort angelangt sind, was machen wir jetzt?«
Tristan wandte sich im Sattel um und wies mit seiner Peitsche auf eine kleine Herberge, die auf der anderen Seite der Straße, der Brücke zugekehrt, stand und deren grün-gelb-rotes Schild verkündete, daß man im ›Königlichen Kelterhaus‹ den besten Wein von Vouvray zu trinken bekomme.
»Dort geht Ihr hinein und wartet auf mich. Ich muß den Anführer des Stammes sprechen. Macht's Euch bequem, ruht Euch aus, trinkt aber nicht zuviel! Der Wein von Vouvray schmeckt gut, aber er steigt zu Kopf.«
»Haltet Ihr uns für Trunkenbolde?« begehrte Sara auf.
»Mitnichten … Hochwürden! Aber Mönche haben einen so schlechten Ruf! Vor allem rührt Euch nicht von der Stelle, bis ich wieder zurück bin!«
Während der falsche Mönch und der falsche Knappe ihre Pferde vor dem ›Königlichen Kelterhaus‹ anbanden, ritt Tristan entschlossen der Brücke zu und entschwand bald den Augen seiner Gefährten. Die kleine Herberge war leer, und der Wirt bemühte sich, seine unerwarteten Gäste bestens zu bedienen. Er hatte noch ein gepökeltes Schwein im Keller und konnte ihnen eine kräftige Kohlsuppe servieren, die, zusammen mit dem berühmten Wein, eine sehr angenehme Mahlzeit ergab.
Es war Mittag, und die beiden Frauen, die sich mehr als drei Tage unterwegs befunden hatten, waren förmlich ausgehungert. Angenehm gestärkt, fühlten sie sich wohler, und selbst Sara sah die Dinge jetzt optimistischer an.
Tristan kehrte zurück, als der Tag sich zum Abend neigte. Er schien müde und sorgenvoll, aber in seinen blauen Augen funkelte ein ermutigendes Licht. Er weigerte sich zu sprechen, bevor er einen Krug Wein hinuntergestürzt hatte, weil, wie er sagte, seine Kehle so trocken wie Werg sei und der kleinste Funken genüge, sie zu entzünden. Von Ungeduld verzehrt, sah Cathérine zu, wie er seinen Wein schlürfte, aber allzulange hielt sie es nicht aus.
»Also?« fragte sie nervös.
Tristan stellte seinen Krug zurück, wischte sich die Lippen am Ärmel ab und warf ihr einen spöttischen Blick zu.
»Habt Ihr es so eilig, Euch dem Wolf zum Fraß vorzuwerfen?«
»Sehr eilig!« antwortete die junge Frau trocken. »Und ich möchte eine Antwort.«
»Also seid beruhigt, alles ist abgemacht. In gewisser Hinsicht habt Ihr Glück … aber nur in gewisser Hinsicht, denn das wenigste, was man sagen kann, ist, daß die Beziehungen zwischen dem Schloß und dem Zigeunerlager ziemlich gespannt sind.«
»Zunächst einmal«, mischte Sara sich ein, »diese Zigeuner, was sind es für welche? Habt Ihr daran gedacht, das festzustellen?«
»Ihr werdet zufrieden sein, und auch hier habt Ihr Glück. Es sind Kaldéras. Sie nennen sich Christen und behaupten, ein Breve Papst Martins V. zu besitzen, der vor genau zwei Jahren gestorben ist. Was ihren Anführer Fero nicht hindert, sich Herzog von Ägypten zu nennen.«
Während er sprach, begann Saras Gesicht zu strahlen. Als er geendet hatte, klatschte sie voll Freude in die Hände.
»Sie sind von meiner Rasse! Jetzt bin ich gewiß, von ihnen freundlich empfangen zu werden.«
»Jawohl, Ihr werdet gut empfangen werden. Nur der Anführer kennt die Wahrheit, was Dame Cathérine betrifft. Für alle anderen gilt sie als Eure Nichte, Dame Sara, die ebenfalls im Kindesalter als Sklavin verkauft worden ist.«
»Und«, fragte Cathérine, »was hält der Anführer von meinen Plänen?«
Tristan l'Hermite runzelte die Stirn.
»Er wird uns mit aller Macht unterstützen. Der Haß verzehrt ihn. La Trémoille hat ihm aus einer Laune heraus verboten, den Wallgraben des Schlosses zu verlassen, weil der Kämmerer die Tänze seiner Stammestöchter liebt. Andererseits ist einer seiner Männer gestern beim Einbrechen ertappt und heute morgen gehängt worden. Wenn er nicht fürchtete, die Seinen auf der Landstraße umkommen sehen zu müssen, würde Fero fliehen! Deswegen sagte ich, daß Ihr in gewissem Maße Glück habt, daß Ihr andererseits aber Euren Fuß in einen wahren Hexenkessel setzt.«
»Was macht das? Ich muß hingehen!«
»Es ist noch kalt, Ihr müßtet barfuß gehen, müßtet unter freiem Himmel oder in einem schlechten Fuhrwerk schlafen, sehr primitiv leben und …«
Cathérine lachte ihm so schallend ins Gesicht, daß sie ihm das Wort abschnitt.
»Seid nicht albern, Messire Tristan. Wenn Ihr mein Leben genauer kennen würdet, wüßtet ihr, daß ich solcherlei Dinge nicht fürchte. Genug der Ausflüchte. Machen wir uns fertig!«
Nachdem der Wirt bezahlt war, brachen die drei Komplicen auf und ritten auf die Brücke zu. Seit zwei Tagen war das Wetter milder geworden, und die Nacht war zwar feucht, aber nicht kalt. Cathérine schob die Pelerinenkappe auf die Schultern zurück, ihre Zöpfe frei machend, die sie schüttelte, ihr Kampfgeist war wiedergekehrt. Die Stille wurde nur durch das leise, seidige Geräusch des Wassers in den hohen Gräsern und die Schritte der Pferde gestört. Ein guter Geruch nach feuchter Erde stieg in die Nase Cathérines, die zwei- oder dreimal tief den Atem einzog. Die Brücke führte zunächst zu einer langen, bewaldeten Insel, auf der ein schwaches Licht glänzte. Bei Tag hatte die junge Frau die kleine Kapelle Saint-Jean und die sich ihr anschließende Einsiedelei bemerken können. Das mußte die Kapelle des Eremiten sein. Nachdem sie die Insel überquert hatten, stießen sie auf eine weitere Brücke, die nun direkt zum Schloß führte, und diesmal konnte Cathérine auf dem Felsen den Widerschein der Feuer im Wallgraben sehen: Dis Zigeunerlager war noch in voller Tätigkeit.
Auf den Türmen und Rundgängen huschte hin und wieder eine Fackel, die von einem Wachsoldaten auf seinem Streifengang getragen wurde, wie eine Sternschnuppe vorüber, und je mehr man sich näherte, desto deutlicher konnte man die Rufe der Wächter hören, die sich von Turm zu Turm antworteten. Von der kleinen Stadt Amboise, die im Schatten des Außenwerks in ihren Wällen eingeschlossen lag, konnte Cathérine nur die sich nach Süden erstreckenden Ausläufer erkennen. Der Himmel über ihnen war wolkenbedeckt, und seine Fahlheit kündigte den aufgehenden Mond an.
Am Rande des Wallgrabens hielten die drei Reiter an, und Cathérine riß die Augen auf. Einen Augenblick glaubte sie, sich am Eingang zur Hölle zu befinden. Ein Feuer loderte inmitten des Lagers, und um dieses Feuer saß der ganze Stamm auf der Erde, seltsam unbeweglich, aber allen geschlossenen Lippen entrang sich eine Art Klagelied, monoton und düster, auf das ab und zu das dumpfe Geräusch der Eselhauttrommeln unter den hageren Fingern der Männer antwortete.
Die rotgoldenen Flammen tanzten auf ihrer kupferroten Haut, die bei einigen Tätowierungen trug. Die Frauen, in der Mehrzahl in Lumpen gekleidet, hatten dichtes, fettglänzendes Haar, fleischige Lippen, schmale Hakennasen, schwarzgekohlte Augen, selbst die Alten, deren Haut ausgemergelter war als altes Pergament. Einige trugen unförmige Turbane, barbarischen Schmuck … einige waren schön, wie die rauhen, lose sitzenden Hemden, die sie trugen, freizügig zeigten. Die Männer waren schrecklich: zerlumpt, schmutzig, mit wolligem Kraushaar und langen Bärten, unter denen sehr weiße Zähne blitzten. Ihre Köpfe waren mit Lumpen oder verbeulten Helmen bedeckt, die sie zufällig am Wege aufgelesen oder herumliegenden Leichen abgenommen hatten. Alle trugen große Silberringe in den Ohren. Mit unbeweglichen Gesichtern, die Augen gefährlich funkelnd auf das lodernde Feuer gerichtet, die nie endende Totenklage murmelnd – all dies ließ Cathérine erschauern. Sie suchte Saras Blick, und als sie sprechen wollte, legte die Zigeunerin schnell den Finger auf den Mund.