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»Nicht sprechen«, flüsterte sie so leise, daß die junge Frau sie kaum hören konnte, »nicht jetzt! Rühr dich nicht!«

»Warum?« fragte Tristan ebenso leise.

»Es ist ein Trauerritus. Sie warten zweifellos auf die Leiche des Mannes, der heute morgen gehängt worden ist.«

Tatsächlich bewegte sich vom Schloß herunter eine kleine Prozession dem Lager zu. Ein großer, magerer Mann ging mit einer Fackel an der Spitze, um seinen vier Gefährten voranzuleuchten, die auf den Schultern einen leblosen Körper trugen. Der Mann, auf den das Licht fiel, war in enganliegende scharlachfarbene Hosen und ein schmutziges, zerlumptes Wams gekleidet, das aber immer noch Spuren von Goldstickerei aufwies. Die gerissenen Schlingen des Wamses öffneten sich weit und ließen eine braune Brust bis zur Taille sehen, deren ausgeprägte Muskulatur ungewöhnliche Kraft verriet. Der Mann war jung und seine Miene arrogant. Was den langen und dünnen schwarzen Schnurrbart betraf, der seine starken roten Lippen rahmte, unterstrich er noch ihren grausamen Ausdruck, während die dunklen Augen sich schräg zu den Schläfen zogen, damit die asiatische Herkunft bekundend. Das dichte Haar, unter dem man die silbernen Ohrringe blitzen sehen konnte, fiel ihm bis auf die Schultern.

»Das ist Fero, der Anführer!« flüsterte Tristan l'Hermite.

Der Sprechgesang der Trauerversammlung verstummte, als die Träger die Leiche vor dem Feuer absetzten. Die Zigeuner hatten sich erhoben, und einige Frauen hockten sich auf Knien um den Toten herum. Eine von ihnen, so alt und so runzlig, daß ihre Haut auf ihre Knochen geklebt schien, begann mit entsetzlich verbrauchter Stimme eine Art Klagelied zu singen, dessen Melodie dauernd abbrach. Eine andere, junge und kräftige Frau nahm die Melodie wieder auf, wenn die Alte verstummte.

»Mutter und Frau des Toten«, flüsterte Sara. »Sie besingen seine Tugenden …«

Der Rest der Zeremonie war kurz. Der Anführer beugte sich hinunter und schob ein Geldstück zwischen die Zähne des Toten, dann nahmen die vier Männer ihre Last wieder auf und stiegen damit zum Flußufer hinunter. Im nächsten Augenblick tauchte der Leichnam in der Strömung des schwarzen Wassers unter.

»Aus«, sagte Sara. »Auf dem Weg des Wassers kehrt der Mann ins Land seiner Väter heim.«

»Jetzt können wir uns nähern«, sagte Tristan, »denn …«

Aber er unterbrach sich. Sara hatte nämlich plötzlich mit voller Stimme zu singen begonnen, so daß Cathérine erschrocken auffuhr. Es war lange her, daß die junge Frau Sara hatte singen hören, jedenfalls in dieser Weise. Gewiß, sie hatte oft alte Balladen geträllert, um Klein Michel in den Schlaf zu wiegen, aber diesen fremden, aus uralten Zeiten stammenden Sprechgesang, rauh, wild und unverständlich, hatte Cathérine nur zweimal von ihr gehört: einmal in der Taverne Jacquot de la Mers in Dijon und dann am Feuer der Zigeuner, die Sara für eine kurze Weile begleitet hatte. Irgend etwas zog ihr die Kehle zusammen, während sie zuhörte. Saras Stimme, voll und kräftig, schien die Nacht zu durchdringen und in ihren Schwingungen den Widerhall des fernen Landes mit sich zu tragen, aus dem die fremde Frau stammte … Der ganze Stamm hatte sich zu ihr umgewandt und lauschte ihr fasziniert.

Langsam, ohne ihren Gesang zu unterbrechen, setzte Sara sich in Bewegung, stieg die Böschung des Wallgrabens hinab. Cathérine und Tristan folgten ihr, letzterer hielt die Pferde am Zügel, und die Zigeuner öffneten vor ihnen ihre Reihen. Erst als Sara vor dem Anführer stand, schwieg sie.

»Ich bin Sara, die Schwarze«, sagte sie einfach, »und mein Blut ist mit dir verwandt. Dies sind meine Nichte Tchalaï und der Mann, der uns durch viele Gefahren und Nöte zu dir geführt hat. Nimmst du uns auf?«

Langsam hob Fero die große Hand und legte sie Sara auf die Schulter:

»Sei willkommen, Schwester! Der Mann, der dich begleitet, hatte nicht gelogen. Du bist eine der Unsrigen, und dein Blut ist rein, denn du kennst die alten Ritualgesänge, die nur die Besten unter uns kennen. Und was sie betrifft –«, sein dunkler Blick musterte Cathérine, der es plötzlich schien, als hüllten Flammen sie ein, »– so wird ihre Schönheit das Juwel unseres Stammes sein. Kommt, die Frauen werden sich um euch kümmern!«

Er verbeugte sich vor Sara wie vor einer Königin, führte dann Tristan ans Feuer, während ein tratschender Kreis von Weibern sich um die beiden Frauen schloß. Verdutzt ließ sich Cathérine zu den am Fuße eines der Türme aufgestellten Fuhrwerken geleiten. Eine Stunde später zwischen Sara und der alten Orka, der Mutter des Hingerichteten, ausgestreckt, versuchte sie, sich aufzuwärmen und gleichzeitig Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Tristan war zur Herberge des ›Königlichen Kelterhauses‹ zurückgeritten, wo er sich zur Verfügung seiner Gefährtinnen halten wollte, bereit zum Eingreifen und dennoch abseits des Zigeunerlagers, wo seine Anwesenheit nur unnötiges Aufsehen erregt hätte. Er hatte Cathérines und Saras Kleider mitgenommen, denn es war die erste Sorge der Frauen des Stammes gewesen, die beiden mit dem zu versorgen, was man in den Truhen hatte finden können. Und jetzt, lediglich in ein langes Leinenhemd gekleidet, das so rauh war, daß es ihre Haut reizte, dazu in eine Art bunten und ziemlich ausgefransten, aber einigermaßen anständigen Überhang, der oben wie eine römische Toga zusammengehalten wurde, kuschelte Cathérine sich an Sara, die nackten Beine unter sich gezogen, und versuchte, sich ein wenig zu wärmen. Sie hätte sonst etwas für ein Bündel Stroh gegeben, aber in diesem mit einer durchlöcherten Plane bedeckten Karren gab es so etwas nicht. Die Bodenplanken waren notdürftig mit ein paar Tuchfetzen ausgestopft, was ein wenig vor der Zugluft schützte und die Härte des Holzes milderte … Ein Seufzer entrang sich ihr, und Sara, die spürte, daß sie sich rührte, flüsterte:

»Bist du ganz sicher, daß du nichts bedauerst?«

Die leise Ironie, die in der Frage lag, entging Cathérine nicht. Sie biß die Zähne zusammen.

»Ich bedauere nichts … ich friere nur!«

»Du wirst nicht lange zu frieren brauchen. Erstens gewöhnt man sich an alles, und dann werden auch bald wärmere Tage kommen.«

Die junge Frau antwortete nicht. Sie spürte, daß Sara, vielleicht weil sie sich alsbald dem schweren Leben der Ihren angepaßt hatte, kein Mitleid für sie empfand. Es lag in ihrer Stimme eine Art ruhiger Zufriedenheit: Zufriedenheit darüber, daß sie zu den tiefen Quellen ihres Ursprungs zurückgekehrt war. Und Cathérine schwor sich, sich der Rolle gewachsen zu zeigen, die zu spielen sie sich vorgenommen hatte, denn sie wollte vor Sara nicht das Gesicht verlieren. Sie begnügte sich also, sich noch fester in ihren Überhang zu wickeln und auch ihre eisigen Beine drunterzuziehen, und murmelte ein undeutliches »Gute Nacht«. An ihrer Seite schlief die alte Orka ohne Geräusch und ohne sich zu rühren wie eine Tote.

Der Tagesanbruch brachte für Cathérine die Begegnung mit den Leuten des Stammes, und bei dieser Gelegenheit vermochte sie das ganze Elend abzuschätzen. Die Feuer der Nacht hatten eine Art Schminke über die Baufälligkeit der Karren, den Schmutz der Körper und Kleider gelegt. Das Tageslicht aber zeigte unbarmherzig die fast nackten Kinder, die übrigens nicht darunter zu leiden schienen, zeigte die mageren Tiere, Hunde, Katzen und Pferde, die auf der Suche nach Nahrung durchs Lager strichen, und zeigte auch das wahre Gesicht der Zigeuner.

Einige flochten für ihren Lebensunterhalt Körbe aus den Binsen des Flusses, aber die meisten waren Kupferschmiede. Ihre Schmiede war indessen höchst primitiv: drei Steine als Feuerherd, ein Blasebalg aus Ziegenhaut, mit den Zehen betrieben, und ein weiterer Stein als Amboß. Was ihre Gefährtinnen betraf, so lasen sie aus der Hand, kochten und stellten überall ihren lässigen Gang zur Schau, wiegten sich auf provozierende Weise in den Hüften. Auch ihre Art, sich zu kleiden, erstaunte Cathérine: Nicht selten konnte man eine Frau mit entblößten Brüsten bei ihrer jeweiligen Tätigkeit antreffen, doch verbargen sie ihre Schenkel und Beine bis zu den Knöcheln.