»Bei uns hängt die Scham mit den Schenkeln zusammen«, erklärte Sara mit Würde. »Die Brust hat keine andere Bedeutung als eben ihre Funktion, das Nähren der Kinder!«
Wie dem auch sei, dachte Cathérine, die Männer mit ihren wilden Augen und blitzenden Zähnen sahen wie Teufel aus, die Frauen, wenn sie jung waren, wie freche Teufelinnen, und wenn sie alt waren, wie unheimliche Hexen. Und insgeheim gestand die junge Frau sich ein, daß diese Leute ihr Furcht einflößten.
Mehr als alle vielleicht der große Fero. Das grobgeschnittene Gesicht des Anführers schien noch grausamer zu wirken, wenn er sie ansah. Sein dunkler Blick funkelte wie der einer Katze, während er sich nervös über die Lippen leckte. Aber er sprach sie nie an, ging langsam seines Weges und drehte sich manchmal um, um sie noch einmal zu betrachten.
Völlig entwurzelt, schloß Cathérine sich verzweifelt an Sara an, die sich unter ihren Rassegenossen mit souveräner Ungezwungenheit bewegte. Alle bezeigten ihr Ehrerbietung, von der Cathérine profitierte, übrigens sehr wohl begreifend, daß man sie ohne Sara zweifellos mißachtet hätte, sie, die Zufallszigeunerin, die nicht einmal das gemeinsame Idiom sprach. Um neugierigen Fragen zu entgehen, gab Sara sie aus Vorsicht als geistig beschränkt aus …
Zwar war das ganz bequem, aber Cathérine konnte sich trotzdem nicht daran gewöhnen, daß die Zigeuner mitten in der Unterhaltung schwiegen, wenn sie sich näherte, und ihr nachstarrten, wenn sie sich entfernte. Sie war von Blicken umgeben, in denen sie gewisse Dinge sehr gut lesen konnte: neidischen Spott bei den Frauen, heimtückische Lüsternheit bei der Mehrzahl der Männer.
»Diese Leute mögen mich nicht«, sagte sie zu Sara nach den ersten drei Tagen. »Ohne dich hätten sie mich niemals aufgenommen!«
»Sie spüren in dir etwas Fremdes«, erwiderte die Zigeunerin. »Sie wundern sich darüber, und es mißfällt ihnen. Sie glauben, bei dir sei etwas übernatürliches im Spiel, wissen aber nicht, wie oder was. Einige meinen, du seist eine Keshalyi, eine gute Fee, die ihnen Glück bringen wird (Fero versucht, sie davon zu überzeugen), andere wieder sagen, du hättest den bösen Blick. Meistens sind es Frauen, hauptsächlich, weil sie in den Augen ihrer Männer lesen können und du ihnen Furcht einflößt.«
»Was soll man also tun?«
Sara hob die Schultern und wies mit einer Kopfbewegung auf das Schloß, das wuchtig und schwarz über ihnen emporragte.
»Warten! Vielleicht kommt bald der Augenblick, in dem der Seigneur La Trémoille nach weiteren Tänzerinnen verlangt. Zwei Stammestöchter sind schon seit acht Tagen oben, und es ist ungewöhnlich, sagt Fero, daß man sie so lange behält. Er glaubt, man habe sie getötet!«
»Und … das nimmt er einfach so hin?« rief Cathérine mit plötzlich trockenem Munde aus.
»Was soll er machen? Er hat Angst wie alle hier. Er kann nur gehorchen und seine Frauen liefern, selbst mit der größten Wut im Herzen. Er weiß sehr gut, daß der Kämmerer, wenn es ihm gefiele, eine Kompanie Bogenschützen auf den Zinnen aufmarschieren und auf das Lager schießen lassen könnte, und niemand würde ihn daran hindern, am allerwenigsten die Leute von der Stadt, die die Umherziehenden wie den Teufel fürchten!«
Ein bitterer Unterton schwang in Saras Stimme. Cathérine verstand, daß sie die Wut Feros teilte, weil die dem Vergnügen La Trémoilles geopferten Frauen ihrer Rasse angehörten. Sie verspürte plötzlich das Verlangen, sie zu trösten.
»Es wird nun nicht mehr lange dauern! Bitten wir den Himmel, daß er mich bald da hinaufsteigen läßt!«
»Den Himmel bitten, daß er dich in Gefahr bringt?« sagte Sara traurig. »Du mußt verrückt sein!«
Doch Cathérine dachte nur an den Augenblick, in dem die Laune des Großkämmerers sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstellen würde. Jeden Abend, am Feuer, nach dem gemeinsam eingenommenen Mahl, beobachtete sie sorgfältig die Mädchen, die Fero tanzen ließ, um sie nachahmen zu können, wenn die Zeit gekommen wäre. Der Anführer sprach sie niemals an, aber sie wußte, daß er für sie jeden Abend diese Tänze aufführen ließ, und oft traf sie auf seinen düsteren, rätselhaften und schwülen Blick.
Immerhin hatte Cathérine sich unter den Frauen zwei Freundinnen gewonnen: Die eine war die alte Orka, die nie den Mund auftat, sie aber stundenlang kopfschüttelnd anstarren konnte. Es hieß, sie habe durch den Tod ihres Sohns den Verstand verloren, aber Cathérine fand Trost darin, diesem alten, freundschaftlichen Gesicht zu begegnen. Die andere, die sich nicht feindlich zeigte, war Feros eigene Schwester. Tereina mußte etwa zwanzig Jahre alt sein. Unglücklicherweise war sie infolge eines Sturzes als Kind verkrüppelt und verunstaltet geblieben und schien jetzt nicht viel älter als zwölf. Man vergaß die Unansehnlichkeit ihres Gesichts, wenn man ihre Augen sah, zwei riesige schwarze, leuchtende Seen, die immer den Eindruck erweckten, als sähen sie weiter und tiefer als die anderen.
Tereina war gleich am nächsten Tag nach Cathérines Ankunft zu ihr gekommen. Ohne ein Wort zu sagen, hatte sie ihr mit schüchternem Lächeln eine Ente hingehalten, der sie kunstgerecht den Hals umgedreht hatte. Cathérine hatte die Geste als Willkommensgruß verstanden und dem jungen Mädchen gedankt, aber sie hatte nicht umhin gekonnt hinzuzufügen:
»Wo hast du sie her?«
»Von da unten«, antwortete das junge Mädchen, »nahe dem Klosterteich!«
»Es ist sehr hochherzig von dir, sie mir zu bringen, aber du weißt, daß du dich eigentlich an fremdem Gut vergreifst?«
Da hatte Tereina ihre großen Augen erstaunt aufgerissen.
»Fremdes Gut? Das gibt's nicht. Der Schöpfer hat die Tiere geschaffen, um die Menschen zu ernähren. Warum behalten dann einige sie ganz für sich allein?«
Auf diese Logik hatte Cathérine keine Antwort gefunden. Sie hatte die Ente, die sie zuvor gebraten hatte, mit Tereina geteilt. Seitdem hatte das junge Mädchen sich ihr angeschlossen und half ihr, sich an ihr neues Leben zu gewöhnen, im Stamm genoß die Schwester des Anführers außerdem einen besonderen Rang. Sie kannte die Heilkräuter und galt dank dieser Kenntnis als Arzneifrau, die Krankheiten heilen, das Sterben mildern oder Liebe entfachen konnte. Das trug ihr die etwas ängstliche Achtung aller ein.
Am vierten Tag, als die Abenddämmerung einbrach, ließ Fero die beiden Frauen nicht wie an den anderen Abenden an sein Feuer rufen, um am Mahl teilzunehmen. Sie blieben um den Kochtopf der alten Orka versammelt und aßen schweigend das Gericht aus Buchweizen und Speck, stark mit Knoblauch gewürzt, das sie bereitet hatte. Das Lager war still und trübsinnig, denn man hatte immer noch keine Nachricht von den beiden ins Schloß hinaufgegangenen Mädchen. Andererseits hatten sich etwa zehn Männer aufgemacht, um in der Loire zu angeln, immer auf der Hut, den königlichen Förstern nicht in die hart zupackenden Hände zu fallen. Sie würden erst nach zwei oder drei Tagen zurückkehren. In seinem Karren verschanzt, blieb Fero unsichtbar, und es gab an diesem Abend weder Gesänge noch Tänze. Der Himmel war den ganzen Tag über mit dicken schwarzen Wolken verhangen gewesen. Eine für die Jahreszeit ungewöhnliche Wärme hatte eingesetzt. Es sah nach Gewitter aus, und die bedrückte Cathérine fand es schwierig, die feuchte, schwere Luft zu atmen. Sie hatte die zu fette Suppe, deren starker Geruch ihr Übelkeit verursachte, kaum angerührt und wollte wieder in den Karren zurück, um sich schlafen zu legen, als Tereina am Feuer erschienen war. Ein Stück dunkelrotes Tuch umhüllte ihren mißgestalteten Körper, und ihr blasses Gesicht, das sich aus dem Dunkel abhob, ähnelte dem eines Gespenstes. Sara wies schon mit der Hand auf einen Platz neben sich, aber das junge Mädchen hatte nur Cathérine angesehen.
»Mein Bruder möchte dich sprechen, Tchalaï! Ich werde dich zu ihm führen!«