»Nehmt sie mit!«
Achtes Kapitel
Die Nacht hatte sich wie ein schwarzer Schleier über das Land gesenkt, als Cathérine sich halb betäubt in einem Gemach des Schloßturms wiederfand, in das die Bogenschützen sie ohne viel Federlesens gestoßen hatten. Sie war von Schrecken übermannt worden, als ihre Wächter sie zu dem in der Mitte des Schlosses aufragenden riesigen Turm geschleppt hatten, der so hoch war, daß man von seiner Spitze aus die Dächer von Tours sehen konnte, denn sie hatte gefürchtet, in eins der abscheulichen Burgverliese geworfen zu werden, die sie in Rouen kennengelernt hatte. Aber nein, der Raum, in dem sie sich befand, war groß und gut eingerichtet. Seine Wände verschwanden unter bestickten Leinenbehängen und orientalischen Seidenteppichen in Dunkelrot und Silber, während überall blaue Kissen verstreut lagen, die sich reizvoll von dem rotgoldenen Wappen der Familie Amboise abhoben, deren Güter vor kurzem durch königliches Dekret enteignet worden waren.
Cathérine widerstand der Versuchung des großen, quadratischen Bettes in einer Ecke, das ihr hinter den zurückgeschlagenen Vorhängen die Zartheit seiner weißen Leinenlaken und weichen Decken anbot. Schlafen! Ihren von Prellungen und Quetschungen wunden Körper ausstrecken! Aber der lange Degen auf einem Tisch, die in einer Ecke lehnende Ritterrüstung, die männlichen Kleidungsstücke, die auf den Armstühlen und mit kostbaren Toilettengegenständen gefüllten, von Seidenstoffen und Pelzen überquellenden Truhen lagen – all dies sagte ihr nur zu deutlich, daß sie sich im Privatraum Gilles de Rais' befand.
Sie wußte nicht mehr recht, woran sie war, aber die Angst war immer noch da, zäh und drückend. Die Erinnerungen, die sie an ihren Aufenthalt bei Gilles de Rais bewahrte, erwiesen sich als zu schmerzhaft, als daß es hätte anders sein können. Im Grunde hatte sie, als sie dem Messer Dunichas entwischt war, nur das Schreckgespenst gewechselt, und dies hier war schlimmer als das andere. Was sie marterte, war der Gedanke, was Gilles mit ihr vorhatte. Warum hatte er sie hierherbringen lassen? Er konnte sie nicht wiedererkannt haben. Also?
Wenn sie entlarvt würde, wäre ihr Tod eine sichere, nur fürs erste aufgeschobene Sache. Wenn aber nicht? Sie kannte seinen Blutdurst gut genug, um zu wissen, daß er nicht zögern würde, eine Zigeunerin zu töten, wenn er Lust dazu hätte. Er könnte sie auch vergewaltigen und dann töten … in jedem Fall käme es auf dasselbe heraus, den Tod! Welchen anderen Grund, als sich zu amüsieren, könnte Gilles de Rais haben, eine Zigeunerin zu sich zu holen?
Auf nackten Sohlen ging sie zum Kamin, in dem ein großes Feuer prasselte, und ließ sich auf eine mit Kissen belegte Bank sinken. Die Wärme tat ihr gut. Sie streckte ihre zerschundenen Hände dankbar dem Feuer entgegen. Unter dem rauhen, zerrissenen Hemd, das sie als einziges Kleidungsstück trug, zitterte ihr Körper vor Kälte, aber das Feuer bekämpfte siegreich die Feuchtigkeit des Flusses und die Frische der Nacht.
Ohne daß die junge Frau es sich versah, hatten sich ihre Augen mit Tränen gefüllt. Eine nach der anderen rollten sie auf das grobe Linnen hinunter. Cathérine hatte Hunger! … Seit ihrer Ankunft im Zigeunerlager hatte sie immer Hunger gehabt! überall spürte sie Schmerzen, aber vor allen Dingen war sie müde, psychisch mehr noch als körperlich. Die Bilanz der letzten Ereignisse war noch viel erdrückender: Sie war in die Hände ihres Feindes Gilles de Rais gefallen. Sara war auf geheimnisvolle Weise verschwunden, ohne mit Tristan l'Hermite zu sprechen, für dessen Verhalten sie lieber erst gar keine Erklärung zu finden versuchte. Jedenfalls sah es ganz nach im-Stich-Lassen aus …
In ihrem Kummer übersah sie völlig die Tatsache, daß sie sich schließlich immerhin in dem Schloß befand, das zu betreten sie sich so sehnlich gewünscht hatte. Es waren die Geräusche von außen, die es ihr seltsamerweise zum Bewußtsein brachten. Zwar wurden sie durch die kolossalen Mauern des Schloßturms gedämpft, aber durch das geöffnete schmale Fenster drang das Echo eines Liedes. Dort, in den königlichen Gemächern auf der anderen Seite des Hofs, sang ein Mann zur Begleitung einer Harfe:
»Schönste, woran denkt Ihr? was seht Ihr in mir? Ihr dürft's nicht verhehlen …«
Cathérine hob den Kopf, warf die schwarzen Locken zurück, die ihr in die Stirn hingen. Dieses Lied war das Lieblingslied Xaintrailles', und hinter der geübten Stimme des Sängers schien sie eine zweite zu hören, unbekümmert und ziemlich falsch, die Stimme ihres alten Freundes. Das war es, was Xaintrailles auf dem Turnierplatz von Arras gesungen hatte, und der Anruf dieser so teuren Erinnerungen riß Cathérine mit. Ihre Gedanken wurden klarer. Ihr Blut rann lebhafter durch ihre Adern, und langsam gewann sie die Herrschaft über sich.
Einige Worte des Konnetabels de Richemont kamen ihr wieder in den Sinn: »La Trémoille teilt nicht einmal das Quartier mit dem König. Im Schloßturm, bewacht von fünfzig Bewaffneten, verbringt er die Nacht …« Im Schloßturm? Aber da war sie ja! …
Unwillkürlich hob sie den Blick zum Steingewölbe, dessen Bogen sich im Schatten verloren. Dieses Zimmer lag im ersten Stock. Der Mann, den sie suchte, mußte dort wohnen, über ihrem Kopf … in Reichweite ihrer Hand, und bei dieser Vorstellung pulste ihr das Blut schneller durch die Adern.
Sie war derart in Gedanken versunken, daß sie nicht hörte, wie die Tür sich öffnete. Lautlos näherte sich Gilles de Rais dem Kamin. Erst als er vor ihr stand, wurde sich Cathérine seiner Anwesenheit bewußt. Um ihrer Maske treu zu bleiben, erhob sie sich sofort mit erschrockener Miene, die sie, nebenbei bemerkt, gar nicht zu heucheln brauchte. Allein die Gegenwart dieses Mannes genügte, um sie in Schrecken zu versetzen.
»Seigneur«, stammelte sie, »ich …«
Ihr bestürztes Herz schlug in einem erschrockenen Rhythmus, aber sie hatte nicht einmal mehr Zeit, ein Wort hinzuzufügen. Mit einer brüsken Bewegung hatte er sie an den Schultern gepackt und sie auf den Mund geküßt. Doch sofort ließ er sie wieder los.
»Puh! Du stinkst, meine Schöne. Außerdem – so schmutzig wie du ist man nicht!«
Alles hatte sie erwartet, nur das nicht! Und seltsam, sie fühlte sich tief gekränkt. Sie wußte wohl, daß sie schmutzig war, aber es ihn sagen zu hören war unerträglich. Indessen trat er zurück und klatschte in die Hände. Ein Posten erschien, bis an die Zähne bewaffnet. Er bekam den herrischen Befehl, zwei Kammerfrauen zu holen. Als der Mann mit den Zofen wiederkehrte, wies Gilles de Rais auf Cathérine, die mißtrauisch auf ihrer Bank kauerte.
»Führt diese liebenswürdige Person ins Schwitzbad! Und gebt gut acht. Du, Bogenschütze, wirst darüber wachen, daß meine Gefangene uns nicht entwischt!«
Nolens volens mußte Cathérine, wütend und unendlich verärgerter, als sie sich eingestehen wollte, ihren Wächtern folgen. Leise Belustigung schlich sich in ihre üble Laune, denn sie hatte gesehen, wie eine der Kammerfrauen mit zwei Fingern das Hörnerzeichen hinter ihr hergemacht hatte. Die beiden Mädchen schienen eine Heidenangst vor dieser Zigeunerin zu haben, mit der sie sich abgeben mußten. Das machte ihrer Verkleidung zwar alle Ehre, andererseits aber wurde sie von Unruhe ergriffen, die ihre Freude, bald von ihrem Schmutz befreit zu werden, unerfreulich trübte: Würde die Färbung des Malers Guillaume diesem Bad widerstehen? Ihr Haar war nach wie vor sehr schön schwarz, um so mehr, als eine gute Dosis Staub darin steckte, und in einem Täschchen, das Sara ihr in die Innenseite ihres Hemds genäht hatte, trug sie stets die beiden Schächtelchen bei sich, die der alte Künstler ihr gegeben hatte. Aber ihre Haut?
Sie wurde schnell beruhigt. Die Farbe hielt gut. Das Badewasser färbte sich allenfalls ein wenig gelblich, und Cathérine überließ sich mit vollem Genuß dem heißen Wasser und den parfümierten Ölen. Ihren mißhandelten Körper durchdrang ein köstliches Wohlbefinden, während ihr Geist sich ebenfalls entspannte. Sie schloß die Augen, versuchte, ein wenig Ordnung in ihre Gedanken zu bringen, die tief sitzende Bangigkeit, die ihr die Kehle zuschnürte, zu beruhigen. Dieses Bad war eine unerwartete, wohltuende Atempause vor Konsequenzen, die sie sich gar nicht vorzustellen wagte, in ihrer ganzen Länge ausgestreckt, bemühte sie sich, ihren Geist auszulüften. Dieser Augenblick des Aufschubs würde vielleicht der letzte sein. Danach …