Als sie den Almosenbeutel an den um ihre Hüften geschnallten Gürtel hängte, zitterten Cathérines Finger ein wenig. Sie verging fast vor Neugier, um so mehr, als die Dicke des Leders es ihr unmöglich machte zu erspüren, was drin war. Aber eine kleine Willensanstrengung genügte, um sich vorzeitige Nachforschungen zu versagen. Sie nahm statt dessen den weiten, ärmellosen Mantel aus feiner schwarzer Wolle, der als letztes ihrer Ausstattung hinzugefügt worden war, legte ihn sich um die Schultern und gab Chryssoula ein Zeichen, daß sie fertig sei. Die Alte öffnete die Tür und ging vor ihr her durch das riesige, prächtige Gemach des Großkämmerers, einen wahren Tempel aus Gold, in dem selbst die Bettvorhänge und die Kissen der Sessel im Widerschein des magischen Metalls glänzten. Dann traten sie auf die schmale Treppe des Schloßturms hinaus.
Dort war es düster, und im Schutze ihres Mantels durchsuchte Cathérine hastig den Almosenbeutel. Er enthielt ein Taschentuch, einen Rosenkranz, einige Geldstücke; dann entdeckten ihre Finger eine kleine Pergamentrolle und schließlich einen Gegenstand, der sie vor Freude erbeben ließ, so daß sie zwei-, dreimal darüber hinstrich, um sich zu vergewissern, daß sie sich nicht irrte: ein Dolch! Der Sperberdolch der Montsalvys! Arnauds Dolch, den sie bei ihren Männerkleidern hatte lassen müssen! Inbrünstiger Dank stieg in Cathérines Herz für Tristan auf. Er hatte an alles gedacht! Er wachte wirklich gut über sie und hatte erraten, daß sie lieber zustoßen würde, als sich dem Großkämmerer hinzugeben!
Mit beschwingten Schritten stieg sie die letzten Stufen der dunklen Treppe hinter Chryssoula hinab, die wie eine Maus vor ihr her trippelte. Sie war frei! Frei, zu leben oder zu sterben, frei, zu töten oder Gnade walten zu lassen! Als sie auf den Hof hinaustrat, sandte sie einen triumphierenden, frohen Blick zum weiten, heiteren Himmel empor, jetzt hatte sie das Mittel, ihren Feind zu schlagen, ihre Rache zu kühlen! Was spielte es für eine Rolle, was danach mit ihr geschah?
Aber sie schwebte noch nicht hoch genug in den Wolken, um nicht brennend gern wissen zu wollen, was in diesem Pergamentröllchen stand. Zweifellos hatte Tristan ihr etwas Wichtiges mitzuteilen. Wie fing man es an, die Botschaft in Ruhe lesen zu können? Erklären, man sei müde und wolle wieder hinaufgehen? Jetzt schon? Das würde vielleicht Verdacht erwecken. Besser, sie wartete noch ein wenig. Eine halbe Stunde mehr oder weniger spielte zweifellos keine Rolle …
Im riesigen Hof des Schlosses wimmelte es von Menschen, die geschäftig durcheinanderquirlten. Eine Kompanie Bogenschützen begab sich zu den Zinnen hinauf, und die Sonnenstrahlen ließen ihre Helme funkeln. Aus dem steil ansteigenden Torgewölbe, das durch ein jetzt hochgezogenes Fallgatter geschlossen werden konnte, tauchten knarrend mit Holz beladene Karren auf, um im Hof entladen zu werden. An ihnen vorbei stiegen Wäscherinnen zum Fluß hinunter, die mit Wäsche gefüllten Körbe kunstgerecht auf den Köpfen balancierend. Neben dem imposanten, aber strengen königlichen Logis erwarteten Jäger, bereits zu Pferd, Falken auf den mit dickem Leder behandschuhten Fäusten, offenbar einen anderen Jäger, zweifellos von hohem Rang, während eine Gruppe plappernder Hofdamen mit spitzen, schleierumwogten Hauben dem Obstgarten zustrebte. Cathérine, die alte Chryssoula auf den Fersen, irrte einen Augenblick inmitten dieses Gewimmels herum und genoß das einfache Vergnügen der Sonne auf ihren Schultern. Der Monat Mai breitete jetzt seine ganze blühende Seligkeit in Gestalt frischer Blumen aus, die den Obstgarten auf der langen, von Mauern umschlossenen Terrasse über der Loire schmückten. Es war, als würfe die Natur endlich den Alpdruck des Winters und des verspäteten Frühlings von sich, als versuche die geschundene Erde des Königreichs, Rache zu nehmen für all die Verwüstungen, die vielen Tränen und das vergossene Blut. Und Cathérine entdeckte mit Erstaunen, daß im Schatten dieser Festung die Rosen noch Knospen trieben. Es war so lange her, daß sie eine Rose gesehen hatte!
Vom durch die niedrige Pforte leuchtenden frischen Grün des Obstgartens angezogen, ging sie sachte darauf zu, als einige von Pagen begleitete Damen herauskamen, in der Mehrzahl junge Mädchen, die Blumenkränze auf ihrem langen, gelösten Haar und gleichartige hellblaue Kleider trugen. Sie umgaben eine große, stolze und prächtige Frau, deren hochmütige Schönheit durch eine prunkvolle Robe aus orange- und goldfarbenem Brokat noch erhöht wurde. Der schwere Stoff schien aus demselben Material gewoben zu sein wie ihr üppiges rötliches Haar. Saphire blitzten an ihrer tiefdekolletierten Brust und der riesigen Haube, die das Haupt königlich krönte. Jedermann machte ihr auf ihrem Wege Platz und grüßte respektvoll. Cathérine hätte diese Frau zweifellos für die Königin persönlich gehalten, wenn sie sie nicht wiedererkannt hätte und ihr Herz nicht sofort vor Bitterkeit angeschwollen wäre. Wie festgenagelt im Staub des Hofes stehend, sah sie mit vor Haß funkelnden Augen der holden, blaugekleideten Schar der die Dame La Trémoille umschwärmenden Ehrendamen entgegen, jene Frau, die es gewagt hatte, Arnaud zu lieben und ihn foltern zu lassen, weil er sie abgewiesen hatte, sie, der Cathérine den Tod geschworen hatte!
Sie merkte, wie Chryssoula unruhig an ihrem Überhang zupfte, aber sie war unfähig, sich von der Stelle zu rühren. Noch nie war Cathérine von einem so rohen, so brutalen Verlangen, zu töten, durchdrungen gewesen.
So starr war ihre Unbeweglichkeit, daß die große, rothaarige Frau auf sie aufmerksam wurde. Sie runzelte die Stirn und rief ihr mit einer herrischen Bewegung zu:
»He! Das Mädchen da! Komm mal her!«
Weder für Gold noch für Silber hätte Cathérine auch nur einen Schritt tun können. Sie war wie versteinert. Nur ihre zornsprühenden Augen lebten noch, doch hinter ihrer Schulter spürte sie, wie Chryssoula zitterte. Eine der jungen Damen des Gefolges mußte die alte Griechin erkannt haben, denn sie murmelte einige Worte ins Ohr ihrer Herrin, deren schöne Lippen sich zu einem verächtlichen Lächeln schürzten, während sie gleichzeitig die Schultern hob.
»Ah, ich verstehe! Wieder eins der Freudenmädchen, mit denen mein Gemahl sich vergnügt! Meinen Segen hat er, wenn er sich in solch schlechter Gesellschaft herumtreibt!«
Und die prächtige Gruppe verschwand im königlichen Logis, ohne sich weiter um Cathérine zu kümmern. Die Alte zerrte so heftig an ihr, daß sie sich schließlich in Bewegung setzte und sich widerstandslos zum Schloßturm führen ließ. Dabei dachte sie, daß sie an dem Tag, an dem sie La Trémoille töten würde, auch noch Zeit finden müsse, sich um seine Frau zu kümmern.
Sie war gerade im Begriff, mit ihrer Bewacherin die niedrige Tür zu durchschreiten, als sie sich plötzlich von zwei kräftigen Händen gepackt fühlte, so daß sie sich einmal um sich selbst drehte. Trotz seiner beschmutzten und abgetragenen bäuerlichen Kleidung erkannte sie Fero und unterdrückte einen Schreckensruf, so verklärt war das Gesicht des Zigeuneranführers.
»Seit Tagen irrte ich um dieses Schloß herum, sinnierte, wie ich in diesen Hof eindringen könnte, weil ich hoffte, dich wiederzusehen, von dir zu hören. Und jetzt sehe ich dich!«
»Geh, Fero«, rief sie. »Du darfst nicht hierbleiben! Die Zigeuner haben hier keinen Zutritt ohne besondere Erlaubnis. Wenn man dich erwischt …«
»Das ist mir gleich! Ich konnte nicht mehr leben, ohne dich wiederzusehen! Das Gift der Liebe ist in mir, Tchalaï, es brennt in meiner Seele und in meinem Blut … und du hast es mir eingeflößt!«