»Los!« sagte die Ehrendame trocken. »Aufstehen! Unten warten ein Sergeant und zwei Bogenschützen, um dich zum Lager deiner Leute zu begleiten.«
Cathérine stand auf und wusch sich mit etwas Wasser die Augen. Der unverschämte Ton Violaines reizte sie, aber womit könnte sie sie zurechtweisen? Ganz offensichtlich hatte die Favoritin der Gräfin keine Sympathien für sie. Diese Neue, außerdem noch aus den Niederungen der Gesellschaft kommend, erregte ihren Zorn. Die Dame La Trémoille schlief noch, und nicht gerade darauf erpicht, sie durch den Lärm eines Streites zu wecken, beeilte Cathérine sich.
Einen Augenblick später trottete sie neben einem großen, bärtigen, mürrischen und von seinem Auftrag durchaus nicht erfreuten Sergeanten, den zwei Bogenschützen begleiteten, durch den großen Hof in Richtung der Auffahrtsrampe. Das Morgenrot zündete den Himmel der aufgehenden Sonne entgegen an, und von der feuchten Erde stieg erquickende Frische auf. Sofort fühlte Cathérine sich besser, ihr Kopf war klarer und ihr Geist frei. Der Morgenwind schien gut nach den Tagen, in denen sie eingesperrt gewesen war …
Jedoch im Augenblick beschäftigte sie ein Problem. Würde es ihr gelingen, Tereina zu sehen, ohne daß Fero von ihrer Anwesenheit erfuhr? Dies schien ziemlich unwahrscheinlich, und in diesem Fall müßte sie sich bestimmt aufs Verhandeln verlegen. Die Narrheit, die er begangen hatte, als der Zigeuner tags zuvor auf der Suche nach ihr in die Umwallung des Schlosses eingedrungen war, ließ vermuten, daß noch weitere Verrücktheiten folgen würden. Würde er nicht versuchen, sie den Bewaffneten, die den Auftrag hatten, sie zu bewachen, zu entreißen?
Die Strecke zum Lager der Zigeuner war nicht lang. Wenn man einmal die Schießscharten des Eingangs passiert hatte, brauchte man nur in den Schloßgraben hinunterzuklettern, und Cathérine hatte nicht mehr viel Zeit, sich Fragen zu stellen. Außerdem wurden Cathérines Gedanken sofort abgelenkt. Sie glaubte, in dieser frühen Morgenstunde das Lager noch schlafend vorzufinden. Aber es herrschte eine ungewöhnliche Betriebsamkeit.
Die Frauen waren schon dabei, die Feuer anzuzünden und Wasser aus dem Fluß zu holen, doch die Alten und die Männer waren um den Karren der alten Phuri Daï versammelt. Sie bildeten eine schweigsame, trübsinnige Gruppe, von der drückende Traurigkeit ausging. Einen Augenblick glaubte Cathérine, die Alte sei gestorben, aber bald erblickte sie sie, in einen Haufen Lumpen gehüllt und auf dem Boden sitzend. Alle hatten den Kopf erhoben und blickten mit offensichtlicher Furcht zum Schloß empor. Fero war nicht dabei.
Cathérines Ankunft, die gut gekleidet und von Bewaffneten eskortiert war, rief Verblüffung und Angst unter den Zigeunern hervor. Was wollte sie von ihnen, diese Unbekannte, durch Barmherzigkeit im Stamm Wiederaufgenommene, die es wagte, sich mit den Soldaten hier zu zeigen? Schon gingen einige Männer mit drohenden Blicken auf sie zu, aber Tereina, die neben einem Kochkessel, unter dem sie das Feuer angefacht hatte, saß, hatte sie auch erkannt, sie, die sie ihre Schwester nannte, und eilte mit freudestrahlendem Gesicht auf sie zu.
»Tchalaï! Du bist wieder da! Ich habe nicht erwartet, dich wiederzusehen!«
»Ich bin nur auf einen Augenblick zurückgekommen, Tereina! Und einzig allein, um dich zu sehen. Ich muß dich um etwas bitten, und … wie du siehst, werde ich bewacht.«
Tatsächlich mußte die Aufregung des Zigeunerlagers dem Sergeanten wenig gefallen, denn er betrachtete die braunen Gesichter mit sichtlichem Mißtrauen, die Hand auf seinen Degen gelegt. Was die Bogenschützen anlangte, so übersahen ihre scharfen Augen keine Bewegung der Menge, und schon waren die Pfeile aus den Köchern gezogen. Tereina warf ihnen einen ängstlichen Blick zu und sagte betrübt:
»Ach! Ich hoffte, du würdest uns Nachricht über Fero bringen!«
Trotz der drohenden Haltung der Bewaffneten hatten sich die Zigeuner den beiden Frauen genähert, so weit jedenfalls, um zu hören, was sie sagten. Einer rief:
»Ja, Fero, unser Anführer! Sag uns, was ihm zugestoßen ist, sonst …«
»Schweigt«, unterbrach Tereina sie zornig. »Droht ihr nicht! Vergeßt ihr, daß sie nach dem Gesetz seine Frau ist? …«
»Und daß meine Leute gut schießen!« brummte der Sergeant. »Zurück, ihr anderen! Nichts darf dieser Frau geschehen, außer, sie versucht zu fliehen!«
Schon zog er seinen Degen. Die Zigeuner traten zurück, bleckten die Zähne wie geschlagene Hunde. Der Kreis um die beiden Frauen und die Soldaten erweiterte sich.
»Ich weiß nicht, wo Fero ist«, sagte Cathérine. »Gestern habe ich ihn im Schloßhof gesehen. Die Wachen haben ihn hinausgeworfen!«
»Er ist gestern abend zurückgegangen. Er wußte, daß es im Schloß ein Fest gab. Er ist mit einem der Bären hinaufgestiegen, in der Hoffnung, während des königlichen Festessens eine Vorführung machen zu können. Der Bär ist in der Nacht zurückgekommen … allein … und verletzt!«
»Ich schwöre dir, Tereina, ich wußte nicht, daß Fero ins Schloß zurückgestiegen ist. Was für ein Wahnsinn, zurückzugehen! …«
Das junge Mädchen senkte den Kopf. Eine dicke Träne rann auf den roten Stoff, den sie anhatte.
»Er liebt dich so! Er wollte dich um jeden Preis zurückholen. Und jetzt … Ich möchte gerne wissen, was ihm zugestoßen ist!«
Vielleicht rührten die tränenerfüllten Augen der kleinen Zigeunerin das rauhe Herz des Sergeanten, denn er murmelte:
»Der Mann mit dem Bären? Man hat ihn überrascht, wie er im Schloßturm durch ein Fenster steigen wollte. Als man ihn festnahm, hat er sich wie ein Teufel gewehrt, und sein Tier ist verrückt geworden … Es hat einen Mordskrakeel gegeben. Und dann ist der Bär entwischt …«
»Und Fero? Und mein Bruder? …«
»Man hat ihn ins Gefängnis geworfen, wo er seine Verurteilung erwartet.«
»Warum ihn verurteilen?« rief Cathérine. »Man hat ihn verhaftet, als er versuchte, in den Schloßturm einzusteigen, gut! Ist das ein so großes Verbrechen, daß man ihn einsperren und verurteilen muß? Hätte es nicht genügt, ihn einfach hinauszuwerfen?«
Das Gesicht des Mannes wurde verschlossen, und seine Augen wurden hart.
»Er war bewaffnet. Er hat einen der Wachsoldaten getötet! Es ist ganz richtig, daß man ihn verurteilt. Jetzt aber, Mädchen, tu, wozu du hergekommen bist, und zwar schnell, und dann zurück! Ich habe keine Lust, mich hier noch lange aufzuhalten …«
Cathérine antwortete nicht und zog Tereina mit sich, die in Schluchzen ausgebrochen war. Das junge Mädchen hatte begriffen, genau wie Cathérine, welches Schicksal Fero erwartete. Der Zigeuner hatte getötet, er würde gehängt werden! … Oder schlimmer! Trotz aller Anstrengung fühlte Cathérine, wie ihr die Tränen in den Augen brannten, während sie die kleine Zigeunerin in ihren Karren zurückbrachte. Was sie zu sagen hatte, konnte nicht vor aller Welt gesagt werden. Die Soldaten begnügten sich, ihnen auf dem Fuß zu folgen und sich in respektvoller Entfernung von dem Fahrzeug zu postieren.
Tereina weinte noch immer verzweifelte Tränen, und Cathérine suchte trostlos nach Worten, um ihren Schmerz zu lindern. Trotzdem wurde ihr bei der Nachricht vom bevorstehenden Tode Feros schlecht. Dieser Mann hatte sie bis zum Wahnsinn geliebt, und für eine unfreiwillige Liebesnacht, die sie ihm geschenkt hatte, hatte er alles für sie aufs Spiel gesetzt. Und jetzt sollte er sterben, dieser unsinnigen Liebe wegen … Man mußte etwas tun! Wenn sie der Dame de La Trémoille den gewünschten Liebestrank brächte, würde sie sich vielleicht nicht weigern, den Zigeuner zu begnadigen. Aber man mußte schnell handeln.