Schroff packte sie Tereina an den Schultern und schüttelte sie heftig.
»Hör zu. Hör auf zu weinen! Ich muß wieder hinauf und versuchen, ihn zu retten. Aber zuerst mußt du mir geben, weshalb ich hergekommen bin.«
Tereina trocknete ihre Tränen und bemühte sich um ein schüchternes Lächeln.
»Alles, was ich habe, gehört dir, meine Schwester! Weshalb bist du hergekommen?«
»Ich brauche den Trank, den du mir in jener Nacht zu trinken gabst, in der … Erinnerst du dich? Die Nacht, in der Fero mich rufen ließ! Bring mir bei, wie man ihn zusammenstellt. Unser aller Leben hängt vielleicht von dieser Droge ab. Ich brauche sie um jeden Preis und so schnell wie möglich. Kannst du mich lehren, sie zusammenzustellen?«
Das Mädchen sah sie erstaunt an.
»Ich weiß nicht, in welcher Absicht du das von mir verlangst, Tchalaï, aber wenn du sagst, daß Menschenleben von dem Trank abhängen können, werde ich dir keine weiteren Fragen stellen. Merke dir nur, daß es lange dauert, diesen Trank zu mischen, und daß sein Rezept nicht weitergegeben werden kann. Um ihn zu machen, bedarf es außer der Kenntnis noch einer anderen Sache … einer Art Veranlagung, sonst kommt er nicht voll zur Wirkung. Man muß einige Zauberformeln sprechen und …«
»Kannst du mir also ein wenig davon machen?« unterbrach Cathérine ungeduldig. »Es ist sehr ernst … sehr eilig!«
»Brauchst du viel? Willst du ihn bei mehreren Personen anwenden?«
»Nein, nur bei einer!«
»In diesem Fall weiß ich, was du brauchst!«
Tereina glitt in den hinteren Teil ihres Wagens, wühlte in einer unter dem Gerümpel verborgenen Schachtel, zog ein rundes Fläschchen aus braunem Ton hervor, gab es Cathérine in die Hände und schloß zärtlich die Finger ihrer Freundin darüber.
»Da! Ich hatte es für dich präpariert … für deine Hochzeitsnacht! Es gehört dir also. Mache den Gebrauch davon, den du willst. Ich weiß, daß er in jeder Hinsicht gut sein wird!«
Von einem plötzlichen Impuls getrieben, packte Cathérine die kleine Zauberin an den Schultern und umarmte sie lebhaft.
»Selbst wenn es mit Fero nicht gutgeht, werde ich deine Schwester bleiben, Tereina … Ich würde dich gern mitnehmen, aber im Augenblick kann ich es nicht!«
»Und ich muß hierbleiben. Man braucht mich, weißt du!«
Indessen verging der Sergeant der Bewaffneten draußen vor Ungeduld. Er schlug mit seiner gepanzerten Faust das Filztuch beiseite, das den Karren verschloß, und steckte den Kopf hinein.
»Beeil dich ein wenig, Frau! Ich habe meine Befehle! Genug geredet!«
Als einzige Antwort umarmte Cathérine Tereina noch einmal und steckte das Fläschchen in ihren Almosenbeutel.
»Danke, Tereina, und paß auf dich auf. Ich werde sehen, ob ich etwas für Fero tun kann. Leb wohl!«
Behende glitt sie aus dem Karren und ging zu den Bewaffneten.
»Gehen wir zurück. Ich bin fertig!«
Sie umringten sie von neuem, schritten durch den versammelten, schweigsamen Stamm und stiegen den Graben zur Zufahrtsrampe wieder hinauf. Im Vorbeigehen erkannte Cathérine Dunicha, das Mädchen, das sie zum Zweikampf herausgefordert hatte, und wandte den Kopf ab. Aber nicht so schnell, um nicht aus dem Augenwinkel den vor Haß brennenden Blick der Zigeunerin zu erhaschen. Wahrscheinlich machte Dunicha sie für die Verhaftung Feros verantwortlich und haßte sie jetzt ohne Zweifel hundertmal mehr als zur Zeit des Kampfes … Cathérine andererseits zürnte ihr nicht … da Dunicha Fero liebte, hatte sie jedes Recht, die zu hassen, die ihn ihr weggenommen hatte und für die er jetzt sterben sollte! Trotzdem nahm sie sich vor aufzupassen; Dunicha war nicht die Frau, nur passiv zu hassen und nicht nach einer Gelegenheit zur Rache zu suchen.
Ein Trompetenstoß hinter ihr ließ sie sich umwenden. Der Tag war jetzt sehr klar … Unter den Sonnenstrahlen flimmerte die Loire zwischen ihren grünen Ufern wie ein Feuerstrom, und von diesem unter den Brücken vorbeifließenden blendenden Grund hoben sich die prächtigen Farben eines imposanten Zuges ab. Ritter in Kriegsharnischen, die sich deutlich von einer Schar Damen in hellen Kleidern im Sattel friedfertiger Zelter unterschieden, umgaben eine große Sänfte, deren blauseidene Vorhänge, mit Goldlilien bestickt, zurückgeschlagen waren. Darin saßen, sorgsam in weißes Musselin gehüllt, eine Dame, eine Amme, die ein Baby trug, zwei Kammerzofen und drei kleine Mädchen zwischen drei und acht Jahren. Eine Kompanie Arkebusiere, Pagen und Herolde gingen dem großen Gefährt voraus, dem voran ein Standartenträger ein großes Banner schwang, auf dem Cathérine mit plötzlich stärker klopfendem Herzen das Wappen Frankreichs verschlungen mit dem von Anjou bemerkte. Unwillkürlich war sie stehengeblieben, aber der Sergeant drängte sie schon mit den Bogenschützen auf die grüne Böschung.
»Die Königin! Platz für die Königin! Und vergiß nicht niederzuknien, Zigeunerin, wenn unsere Gute Dame vorüberkommt!«
Cathérine bedurfte dieser Mahnung nicht. Marie d'Anjou, Königin von Frankreich, war eine furchtsame, schüchterne Frau, aber sie hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis, und Cathérine war lange Monate eine ihrer Ehrendamen gewesen. Es war zwar höchst unwahrscheinlich, daß sie sie in ihrer Vermummung als Zigeunerin wiedererkennen würde, doch in der Kleidung der Dienerin eines hochgestellten Hauses, in der Linnenhaube, die ihr Haar verbarg, blieben als Maskierung nur noch ihr etwas dunklerer Gesichtsteint und ihre schwarzen Augenbrauen übrig. Schon in der vergangenen Nacht, während sie sich aufs Bett setzte, hatte die Dame La Trémoille ihre neue Kammerzofe mit nachdenklichen Augen betrachtet.
»Komisch!« hatte sie gesagt. »Mir scheint, daß ich dich schon irgendwo gesehen habe. Du erinnerst mich an jemand … aber ich weiß nicht, an wen!«
Cathérine hatte diese glückliche Gedächtnislücke gesegnet und schnell geantwortet, daß die edle Dame sich wahrscheinlich an eine ihrer Schwestern erinnere, die zum Tanzen ins Schloß gekommen sei. Es war nicht nötig, daß die Gräfin zu lange in ihrem Gedächtnis nachforschte. Und tatsächlich schien sie nicht mehr darüber nachzudenken. Dies jedoch wäre eine Katastrophe, wenn die Königin sie wiedererkennen würde! …
Als die königliche Kavalkade, von den Freudenrufen der aus Amboise herbeigeeilten Leute verfolgt, in ihrer Nähe vorbeikam, beeilte sie sich, niederzuknien und höchst demütig den Kopf zu senken … um so mehr als im selben Augenblick ein Trupp von Herren aus dem Schloß ritt, um die Herrscherin willkommen zu heißen, und dieser Trupp von Gilles de Rais angeführt wurde.
Glücklicherweise schenkte er ihr keinerlei Aufmerksamkeit, und als die Sänfte hinter den Vorwerken der Festung verschwunden war, glaubte Cathérine, den Kopf wieder heben zu können. Nur um die Beine eines vor ihr haltenden Pferdes zu sehen, während eine jugendliche Stimme trocken fragte:
»Was hat diese Frau getan, Sergeant? Und warum hast du sie verhaftet?«
Der hochmütige Ton ließ Cathérine erröten, die sich, ohne eigentlich zu wissen, warum, schuldig fühlte. Außerdem konnte der Fragende kaum älter als zehn Jahre sein. Mager, mit gelbem Teint, schwarzem, glattem Haar, war dieser Junge mit breiten, knochigen Schultern, einer großen Nase und einem Paar kleiner schwarzer, seltsam lebhafter und für ein so junges Wesen scharfsinniger Augen versehen. Er hatte nichts Verführerisches an sich, aber aus der hochmütigen Art, wie er den Kopf hielt, aus der Schönheit des Pferdes, dessen Zügel er fest mit den nervösen Händen umfaßte, und besonders aus seiner teils roten, teils schwarzweißen Kleidung, Leibgedinge der Prinzen königlichen Blutes, schloß Cathérine, daß sie den Dauphin Louis, den ältesten Sohn des Königs, vor sich hatte.