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Das Abendläuten war in der letzten Nacht, als Tristan gekommen war, schon lange vorbei gewesen.

»Aus Mitleid, Aycelin … wenn du ein wenig Freundschaft für mich empfindest, such ihn!«

Der Folterknecht nickte mit dem großen Kopf, dem die riesigen Ohren das Aussehen eines Kochtopfs gaben. Seine Äuglein blinzelten unter den wimperlosen Lidern.

»Ich will's versuchen … aber es wird nicht leicht sein! Es ist ein großes Hin und Her im Schloß heute. Der König hat beschlossen, morgen nach Chinon abzureisen. Man packt die Reisetruhen, ich werd' tun, was ich kann …«

Mit müden Gliedern ließ Cathérine sich wieder auf ihren Strohhaufen fallen. Die Nachricht, die Aycelin ihr soeben gebracht hatte, war kostbar, denn sie war der deutliche Beweis ihres Sieges. Der König, das bedeutete La Trémoille! Und er würde sich nach Chinon aufmachen, wo ihn die Männer des Konnetabels von Richemont erwarteten, wo Raoul de Gaucourt kommandierte, von den Verschwörern gewonnen. Der alles verheerende Eber, der schon zu lange über die Erde Frankreichs galoppiert war, ging seinem letzten Gehege entgegen. Aber wenn Aycelin Tristan nicht fände, würde Cathérine den Tag ihres Sieges nicht anbrechen sehen …

Lange Stunden verharrte sie auf ihrem Strohlager, ins Leere starrend, die Hände um die Knie geschlungen, ihren Herzschlägen lauschend und mit aller Macht gegen die Verzweiflung ankämpfend. Jenseits der Wand, ganz nah, war Sara, ihre alte Sara, die tröstende Zuflucht grausamer Stunden, und sie konnte nicht zu ihr. Sie hätte rufen müssen, um von ihr gehört zu werden, aber dazu besaß sie nicht mehr die Kraft! … Doch die Angst überfiel sie noch grausamer, als der Tag zu Ende ging. Draußen im Schloßhof herrschte lebhafte Bewegung. Von ihrer Höhle aus konnte sie die Befehle, die Rufe der Diener, die Anweisungen, das ganze fröhliche Gelärm eines bevorstehenden Aufbruchs hören. Da, ganz nahe, waren die Geräusche des Lebens, die die Todgeweihte grausam verhöhnten. Und einen Augenblick fragte sie sich, ob die Toten in ihren Gräbern das Getöse der Lebenden hören könnten …

Das öffnen des Gucklochs in ihrer Tür ließ sie zusammenzucken. Durch das Gitter bemerkte sie das rote Gesicht Aycelins, von einer Kerze angestrahlt. Und die Worte, die er sprach, fielen wie schwere Steine auf ihr Herz:

»Ich hab' den Mann nicht gefunden … Verzeih mir!«

»Such weiter!«

»Kann ich nicht! Hab' nicht die Zeit dazu. Ich muß mich vorbereiten …«

Das Guckloch klappte zu. Cathérine fand sich in die Dunkelheit der anbrechenden Nacht zurückgeworfen. Eine Dunkelheit, der sie nur entrinnen würde, um in eine noch tiefere Nacht zu tauchen. Nun war alles beschlossen! Die Hoffnung war tot, von den Menschen war nichts mehr zu erhoffen. Man mußte sich Gott zuwenden … Langsam ließ Cathérine sich auf die Knie sinken und barg ihr Gesicht in den Händen.

»Mein Gott!« murmelte sie. »Da es nun einmal dein Wille ist, daß ich heute nacht sterbe, gewähre mir wenigstens die Gnade, die Folter nicht erleiden zu müssen. Gib, daß ich Zeit habe, mein Leben selbst zu beenden …«

Sachte zog sie den Dolch aus ihrem Brusttuch, hielt ihn fest an sich gedrückt, von einer plötzlichen Versuchung ergriffen. Warum nicht jetzt Schluß machen? Wenn die Folterknechte in ihr Gefängnis kämen, würden sie nur einen leblosen Körper vorfinden. Das wäre viel einfacher …

In ihrer Hand fühlte sich der Griff des Dolchs warm wie ein lebender Vogel an, beruhigend wie ein treuer Freund. Sie wußte genau, wohin sie stoßen mußte, um ihr Herz zu treffen. Da, genau unter die linke Brust … Mit der Spitze der Waffe suchte sie die Stelle, stieß zu … Die scharfe Spitze drang durch ihre Haut, unter das Zellgewebe, und weckte Cathérine aus der todesähnlichen Betäubung, die sie überkommen hatte. Diese so zarte Haut zu durchstoßen wäre leicht. Sie brauchte nur noch etwas stärker zu drücken. Aber ein unerklärlicher Instinkt hielt die Hand der jungen Frau zurück. Wenigstens wollte sie die letzten Minuten, die ihr blieben, durchleben. Und außerdem wollte sie nicht in diesem Loch sterben. Sie wollte im Licht sterben, und sei es auch im Folterkeller. Sie wollte im Angesicht ihrer Feindin sterben, ihre Wut genießen, wenn sie sich ihrer Rache entzöge, ihren haßerfüllten Schrei vernehmen, bevor sie ihre Seele aushauchte … Jawohl, sie mußte bis dahin warten … Das war besser!

Die Hörner des Schlosses antworteten den Glocken der Stadt und kündeten den Abend an! Sie ließen Cathérines Blut gerinnen. Waren es bereits die Posaunen des jüngsten Gerichts, die der Totenglocke antworteten? Die letzten Minuten verstrichen in der Sanduhr ihres Lebens … Bald …

Im Flur klangen eisenklirrende Schritte, Füßescharren von Stahl auf Stein. Cathérine schloß die Augen, betete von ganzem Herzen um den Mut, den sie so dringend brauchte. Jemand blieb vor ihrer Tür stehen. Die Riegel knirschten …

»Adieu!« murmelte sie. »Adieu, mein Kindchen! … Adieu, mein vielgeliebter Mann! ich werde dich im Paradies erwarten!«

Die Tür ging auf, die Gefangene gewahrte vier Soldaten, die draußen warteten. Der Folterknecht trat ein, allein, und Cathérine überlief ein Schauer. So abstoßend Aycelins Physiognomie auch sein mochte, zog sie sie doch dem Anblick vor, den er in diesem Moment bot. Die groben Züge des Folterknechts waren unter einer roten Kapuze verborgen, die nur zwei Schlitze für die Augen aufwies und bis auf die Schultern herabfiel. Er sah furchterregend aus …

Ohne ein Wort zu sagen, ließ er die eisernen Handschellen zu Boden fallen und packte Cathérines Handgelenke, um sie ihr auf den Rücken zu legen. Sie bat flehentlich:

»Eine einzige Gunst, Freund Henker, die letzte … Binde meine Hände vorn zusammen!«

Durch die Schlitze der Maske sah sie die Augen des Henkersknechts. Sie schienen ihr ungewöhnlich glänzend. Aber er sagte nichts, begnügte sich zu nicken. Cathérines Hände wurden vorn zusammengebunden, und sie stellte mit Freuden fest, daß er die Stricke nicht fest zuzog. Sie würde keine Mühe haben, den Dolch zu ergreifen, sobald es soweit war …

Mit festem Schritt trat sie durch die Tür und stellte sich mit hocherhobenem Kopf zwischen die Soldaten. Der Folterknecht bildete die Nachhut. Sie wandte sich nicht um, als sie von neuem die Riegel zuschnappen hörte. Was kümmerte es sie, daß man die Kerkertür wieder sorgfältig schloß? Sie hatte nicht einmal den Mut, einen Blick auf die Tür zu Saras Zelle zu werfen. Aber ihre Stimme mit aller Kraft erhebend, rief sie:

»Adieu, adieu, meine gute Sara! Bete für mich!«

Die Antwort drang bebend an ihr Ohr:

»Ich habe gebetet! Mut!«

Sekunden später öffnete sich vor ihr die niedrige Pforte zu dem verhängnisvollen Raum, und sie mußte allen Mut zusammennehmen, wie Sara es ihr empfohlen hatte, um nicht schwach zu werden, so sehr hatte sie den Eindruck, in die Hölle zu treten … Aufrecht, mit gekreuzten Armen neben brennenden Kohlenöfen, in denen Kneifzangen, Haken und Stahlklingen zum Glühen gebracht wurden, standen wartend zwei Folterknechte; ihre Oberkörper waren nackt, und beide trugen eine Kapuze ähnlich der Aycelins. Cathérine betrachtete mit Grauen ihre muskulösen Arme, die von breiten Lederarmbändern umspannt wurden. In die Mitte des Raums war eine Folterbank geschoben worden, deren herunterhängende Ketten das Opfer erwarteten, und im roten Schein der Kohlenöfen zeigten andere Folterwerkzeuge ihre entsetzlichen Formen …

Doch Cathérine überwand sehr schnell den Schauder des Schreckens, der ihr über die Haut gelaufen war, und wandte die Augen von der Foltermaschine ab. Auf dem Sessel, den in der Nacht zuvor ihr Gatte eingenommen hatte, thronte, prächtig in grünen Goldbrokat gekleidet, die Dame de La Trémoille und sah ihr mit einem grausamen Lächeln auf den roten Lippen entgegen. Violaine de Champchevrier saß graziös zu ihren Füßen auf einem schwarzen Samtkissen und roch lässig an einer mit Parfüm gefüllten goldenen Kugel, die sie in ihren hübschen Händen hielt. Der Anblick dieser wie zu einem Fest herausgeputzten beiden Frauen, die in die Folterkammer gekommen waren, um mit anzusehen, wie eine andere gemartert wurde, hatte etwas Empörendes an sich, doch Cathérine begnügte sich damit, sie mit Verachtung zu strafen. Die Dame brach in Gelächter aus: